Die Tür
Ich schreibe mich durch die Nacht. Blau leuchtet die digitale Zeitanzeige im schwarzen Videorecorder: 22.28 Uhr. Die Zeit rennt. Wohin? Sonnenzeit. Sternzeit. Atomzeit. Die Uhr tickt im Abstrakten. Es ist Vollmond. Der Wolf heult. Die Musik trägt mich durch die Nacht. Ich höre die Doors. Die Stimme von Jim Morrison ersetzt den Chor der Klageweiber. Ich sitze auf dem Futon im Wohnzimmer und mein Blick fällt direkt auf die Haustür im Flur. Ich sehe das Skateboard meines Sohnes. Angelehnt. Wir lehnen uns noch aneinander an. Der Mann fehlt. Der Vater fehlt. Sein Tod erschütterte uns wie ein Erdbeben. Da ist eine ganz große Kluft. Wir sind zwei arme Nesthocker mit wenig schützendem Flaum. Das Skateboard steht zum Absprung bereit. Er segelt damit durch die Straßen, von Zeit zu Zeit. Freihändig. Die Zeit vergeht im Fluge. Der rote Teppichvorleger ist ein Geschenk von Oberschwester Ulla. Er wird niemals im Müll landen. Liebe und Fürsorge sind in diesen Teppich gewebt. Ich höre noch ihre zärtlichen Worte. Ich sehe noch den feuchten Wattetupfer auf seinen dunklen Lippen, den dankbaren Blick für die Vertraute, kurz vor dem Erstickungstod in meinen Armen: Das Leben ausgehaucht. Langsam. Atemzug für Atemzug das Leben ausgehaucht. Reflexe nach dem Atemstillstand: Der Mund, der Hals, alles atmet noch, will noch atmen, ohne daß die Luft in die Lunge strömt. Es war, als hätte man einen Fisch an Land gezogen. Und dann schwebte sein Blick in den Himmel und es war Stille. Ich hielt ihn in meinen Armen und gab ihm einen letzten Kuß. Tränen überschwemmten mein Gesicht. Wir öffneten das Fenster für den Freiflug seiner Seele und ich blieb schweigend und weinend bei ihm, bis der Körper kalt war. Mein Sohn saß am Fenster und weinte. Draußen waren die Kirchenglocken zu hören und das letzte Glühen der untergehenden Sonne schimmerte im Sommerregen.
Hier ist die Grenze zum Schweigen. Schon zu viel über das Sterben gesagt. Warum den Leser um den Schlaf bringen? Das schlechte Gewissen regt sich. Ich muß mit diesen Bildern allein um den Schlaf ringen. Obwohl: Andere Menschen haben unendlich viel mehr gesehen. Ich denke an die Ärzte und die Leichenbestatter und die Soldaten und...Oberschwester Ulla hat ihn noch einmal erfrischt. Sie hat viel für ihn getan. Sie hat so viele Menschen sterben sehen auf der Station S wie Sterbehaus. Sie hat sich die Liebe für die Patienten bewahrt. Ich war dankbar für ihre Liebe. Aber er hatte es auch verdient, daß man ihn liebte, denn er war einer der liebenswertesten Menschen auf Erden.
Aber Oberschwester Ulla war für mich auch die beste Krankenschwester der Welt. Ich werde sie niemals vergessen. Ich hänge an diesem Teppich. Ich hänge an diesem Skateboard. Früher war der ganze Plunder nicht so wichtig. Jetzt erzählt hier jedes kleine Ding eine große Geschichte. Unsere Geschichte. Ich möchte nur noch erzählen: von ihm und von unserer Liebe. Diese Liebe war kein Mythos und sie war kein Märchen. Es war eine lebendige Liebe, mit allen Höhen und Tiefen, mit all den guten und den schlechten Tagen. Es war eine gewachsene Liebe. Jetzt frage ich mich: war es nur ein Traum? Es war mein Traum vom Glück und nun ist er Vergangenheit.
Ich bin jetzt ganz wach geworden für die Einsamkeit der anderen Menschen und ihrer Sehnsucht nach Liebe. Ich sehe das Suchen, das Finden und das Verlieren. Ich höre den Alten im Park zu. Ich höre mir Lebensgeschichten an.
Ich habe Zeit. Ich sehe jetzt alles mit anderen Augen. Mein Blick fällt zur Tür. So viele traurige Blicke haften an dieser Tür. Ein guter Freund sagte zu mir: "Er wird nie mehr durch diese Tür kommen. Nie mehr! Finde dich damit ab!" Worte wie ein Schuß vor den Bug. Die verdammte Wahrheit. Ein Satz zu viel. Er wird nie mehr durch diese Tür kommen. Nie mehr. Punkt.
Warum nicht schweigen? Der traurige Blick unseres Freundes haftete auch an der Tür. Er haftet da immer noch. Auch die Blicke der anderen Freunde. Ich bin jetzt die Witwe. Eine schreckliche Rolle. Witwen sind in den Augen der anderen Menschen schwarze und gefräßige Spinnen. Finde dich ab! Witwen müssen sich abfinden. Sie bekommen Abfindungen.
In der Gegenwart seiner Freunde habe ich seinen Namen schon zu oft erwähnt. Sie wollen ihn endlich begraben. Sie suchen für ihn einen eigenen Platz in ihrer Lebensbiographie. Ich muß jetzt Platz machen und Raum schaffen. Ich muß jetzt zurückhaltender werden. Ich muß öfter den Atem anhalten. Ich muß meine Rolle lernen und neu anfangen. Ich soll wieder den Alltag leben. Sie wollen, daß ich die Trauermaske ablege. Sie sitzt so fest, echtes Fleisch und Blut. Ich kann es nicht. Ein Lächeln oder ein lautes Lachen kosten unendlich viel Kraft. Trauermasken sind so schwer, als wären sie aus Blei gemacht! Darunter ist die Haut so dünn, daß man niemanden mehr anschauen kann, ohne in Tränen auszubrechen.
Finde dich ab und ramme eine Lanze vor diese Tür! Baue die Festung deines Lebens! Laß keinen rein in das Innenleben. Das ist niemals unsere Philosophie gewesen. Aber jetzt schotte ich mich gegen Binsenweisheiten ab. Ich kann sie schon auswendig herunterleiern. Sätze wie Gebetsmühlen, die ich immer wieder hören muß: Das Leben muß weitergehen. Die Zeit heilt alle Wunden. Es wird schon wieder. So ist das Leben. Es wird sich ein anderer Mann finden. Neues Spiel und neues Glück. Der nächste bitte! Ach, zeige mir den Weg durch diese Tür!
Meine Mutter sagte: "Der Mensch muß für sein Glück bezahlen." Ich ertappe mich schon bei dem Gedanken, ob Gott ein hinterhältiger Croupier oder ein kleinlicher Buchhalter in grünen Ärmelschonern sein könnte, der täglich Rechnungen und Quittungen verschickt. Mein Gott würfelt nicht. Mein Gott ist großzügig. Er macht Geschenke. Seine Liebe kostet nichts.
Laßt mir meinen Gott! Meine Erfahrung ist nicht deine Erfahrung. Ich muß den Weg allein gehen. Jeder Mensch ist ein Kosmos. Mein Bericht ist subjektiv. Ich weiß. Ich fühle mich einsam, seitdem er gegangen ist. Ich bin kein Single aus Überzeugung. Ich hasse es, nur für mich zu leben. Mein Ego ist mir so egal. Ich bin ein trauriger Narziß, der im Spiegel immer nur das Bild des Geliebten erblickt. Ich war eine treue Seele bis in den Tod. Ich bin altmodisch, aber nicht konservativ. Ich. Ich. Ich rede nur noch mit mir selbst. Mein Gehirn kocht im eigenen Saft. Am liebsten würde ich durch diese Tür rennen und ihn suchen. Ich kann um den ganzen Globus laufen und werde ihn nicht finden.
Ich war immer so romantisch. Ich kam immer ins Schwärmen. Ich spekulierte gern. Er mochte meine Eigenschaften. Er mochte mich so, wie ich war. Oft sagte ich: "Ich gehe mit dir bis an das Ende der Welt." Ich habe es versucht. Bis an die Grenze, den Tod. Diese Grenze ist nun der Grabstein, auf dem sein Name steht. Nun kann ich nur noch seinem Beispiel folgen. Er war mir weit voraus. Das begreife ich erst heute.
Er hat mich niemals allein gelassen. Er kam jeden Tag durch diese Tür. Sein Herz war niemals verschlossen. Er ist auch bis an die Grenze gegangen. Er hat in seinem Leben neue Räume erschlossen. Die Resignation lag ihm nicht. Er hat niemals aufgegeben und für seine Überzeugungen gekämpft. Aber seine Krankheit, die zum Tode führte, hat er akzeptiert, ohne Anklage!
Ich weiß noch: In der Hochzeitsnacht hat er mich durch die Tür getragen. Bei jedem Umzug hat er mich durch die Tür getragen. Ich habe dabei immer wieder vor Freude gelacht. In der Hochzeitsnacht habe ich vor Rührung geweint, weil ich dieses Ritual im Taumel der Gefühle vergessen hatte. Ich schwebte über die Schwelle und landete sanft im großen Bett. Er hat mich auch über diese Schwelle getragen. Die letzte Tür in unserem Leben. Er wird nie mehr durch diese Tür kommen. Nie mehr!
Ich blicke zur Tür und meine Erinnerungen werden wach: Ich lag immer auf dem Futon und las ein Buch, während er mit dem Taxi durch die Nacht fuhr. Er mochte keine Bürotouren im Verkehrsstau. Er liebte die Leichtigkeit der Nachtreisenden. Ich war immer lesehungrig und während dieser Wartezeit verschlang ich unzählige Bücher, um meinen Geist zu füttern. Er kam fast immer um die gleiche Zeit nach Hause. Mein Blick fiel dann immer zur Tür, weil ich mich so sehr auf ihn freute. Ich habe immer auf ihn gewartet, weil er auch auf mich gewartet hätte. Wir gingen nicht allein ins Bett. Wir wollten nach all den Jahren immer noch miteinander reden. Mindestens eine Stunde. Wir wollten nicht nebeneinander her leben und wir wollten uns nicht fremd werden. Wir waren uns so sehr vertraut und wir zogen uns immer mehr ins Vertrauen. Das Vertrauen ist geblieben. So verschmelzen die Seelen.
Ich konnte es immer nicht abwarten, ihn endlich zu sehen. Die vielen kleinen Abschiede durch diese Tür, die täglichen Abschiede waren traurig. Ich liebte seine Gegenwart. Ich fühlte mich wohl, weil er mir Freiraum gab. Seine Gegenwart hat nie erdrückt. Ich erwartete ihn mit Spannung.
Unser Kater wußte immer schon im Voraus, wann er kam. Er setzte sich vor die Tür und miaute voller Ungeduld. Seine Schritte waren langsam und leise, er schloß die Tür sanft und leise auf, leiser als die Nachbarn im Haus. Sein Schlüssel in der Haustür war mein Lieblingsgeräusch. Er kommt! Mein Herz machte immer einen kleinen Hüpfer. Ich glaube, es ging allen so. Alle Blicke hefteten sich voller Freude und Erwartung an diese Tür. Die Menschen freuten sich, wenn er kam.
Er stand immer eine Weile im Flur auf dem kleinen Teppich auf einem Bein und zog sich die ausgelatschten Taxifahrer-Turnschuhe aus, von denen er sich nie trennen konnte, weil sie gut eingefahren waren. Er stand auf einem Bein und warf schon einen Kuß durch die Luft, lächelte und sagte: "Na, wie geht's? Schläft der Dicke gut?" Der Dicke war unser Sohn. Ich nickte, obwohl unser Dicker nicht dick war. Er nannte mich auch "Dicke" in der Gegenwart anderer Leute, weil ich so schlank war und er dann immer die verdutzten Gesichter der Leute genoß. Es kam immer die gleiche Frage: "Wieso dick?" und wir lachten dann. Wir lachten viel. Ich vermisse das Lachen mit ihm.
Er sah immer so schön aus, wenn er durch die Tür kam. Er trug eine grünbunte Flickenlederjacke und weiche Pullover, weinrot oder sonnengelb. Seine Jeans waren hellgrau oder schwarz. Seine langen braunen Haare fielen immer seidig über die Schulter. Die hellbraunen Augen leuchteten wie Bernsteine. Sie waren glänzend und warm. Ich liebte seine schlanken Klavierspielerhände, mit denen er so zierlich die Schuhbänder auflöste.
Dann sagte er: "Es sieht so schön aus, wenn du da so entspannt liegst und ein Buch liest. So hingegossen! Ich liebe es, wenn du liest. Ich mache uns einen Kaffee und dann wirst du mir erzählen, was du gelesen hast. Gab es einen schönen Film im Fernsehen? Erzählst du ihn mir? Du kannst es so gut." Er sagte das oft zu mir. Er sagte es auf den ersten Blick vor der Tür. Seine Augen streichelten meine lesende Gestalt. Ich erzählte ihm von den Büchern und er war ganz Ohr. Er hörte mir immer gespannt zu und er stellte Fragen. Er integrierte meine Gedanken in sein Denkgebäude und dann erzählte er mir von den Fahrgästen der Nacht. Er philosophierte gern mit mir.
In seinem Taxi hatte er immer psychologische Fachliteratur liegen, um die Menschen darüber in das Gespräch zu ziehen. Er war ein leidenschaftlicher Student. Er studierte Psychologie. Aber er sagte mir immer, er studiere das Leben. Er liebte das Lernen und er lehrte mich das Lernen. Ich hörte ihm zu, so wie er mir zuhörte. Ich integrierte seine Gedanken in mein Denkgebäude. Wir hatten uns viel zu sagen. Von ihm habe ich gelernt, was ein echter Dialog ist.
Ich sehe ihn da immer noch auf einem Bein stehen. Er hielt immer die Balance. Doch bevor er in das Zimmer trat, öffnete er immer die Jacke. Wie ein Engel, der die Flügel ausbreitet! Er öffnete die Jacke, damit ich hineinschlüpfen konnte, um ihn zu umarmen. Ich legte das Buch zur Seite und schmiegte mich an seinen warmen Körper, der immer nach den verschiedensten Parfüms der Fahrgäste und nach allen möglichen Tabaksorten roch. Ich sog seinen Duft ein, den Duft eines frischen Herbstwaldes. In diesem Geruch war die Sonne und frische Erde und goldenes Laub. Er schloß die Jacke um meinen Körper und dann war er wie eine Tankstelle für mich. Wir tankten Zärtlichkeit.
Danach tranken wir unseren heißen Kaffee und es wurde gemütlich. Wir sprachen miteinander und dann stellte er immer die Klingel aus. Diesen kleinen Ausschalter hat er noch selbst gebaut, den kleine Kippschalter mit dem roten Punkt. Damit niemand den heiligen Schlaf stören kann. Ich schlief immer in seinen Armen ein und ich schlief wie in Abrahams Schoß.
Nun schlafe ich nur noch mit einer halben Schlaftablette ein. Die Klingel stelle ich nicht mehr aus. Meine traurigen Blicke wandern so oft zur Tür. Auf dem Abstelltisch liegt ein neues Buch. Es heißt "Keiner kommt hier lebend raus ". Das habe ich endgültig begriffen. Die Wahrheit will gehört werden. Vielleicht ist unsere Seele unsterblich. Vielleicht wird der Kokon zu eng und sie sehnt sich durch diese Tür, um neue Räume zu erobern. Vielleicht. Er nannte mich immer seinen kleinen Spekulatius. Süße Spekulation. Ich mache mir Gedanken, aber meine Hypothesen werden von ihm nicht mehr überprüft. Keiner wirft mir täglich Bälle zu. Niemand öffnet die Jacke wie Engelsflügel.
Niemand wird mehr so viel Rücksicht auf mich nehmen. Niemand wird sich so sehr auf mich einlassen. Niemand wird mich so sehr beschützen und mein Selbstwertgefühl stärken. Ich muß mich umstellen. Ich muß mich ganz neu auf die Welt einlassen. Der Tod eines Menschen reißt schwarze Löcher. Ein Vakuum entsteht und dann ein Rückwärtssog. Im ersten Moment siehst du nur zerklüftete Landschaften, Not und Mangel. Der Tod eines Menschen kann sich am Anfang zu einer Katastrophe auswachsen. Man muß eine ganze Weile allein durch die Wüste irren, bis man endlich wieder eine Oase findet.
Manche Menschen hinterlassen Spuren. Ich folge seiner Spur, denn er war ein Fährtensucher. Sein ganzes Leben ist mir ein Vorbild. Er hat es geschafft. Am Ende war er vollendet. Er ist vorausgegangen. Der Kreis unserer Liebe war geschlossen, deshalb kann ich ihn nicht einfach austauschen. Am Ende stand nichts mehr zwischen uns. Wir waren eins.
Einige unserer Freunde sehen ihn auch so, in einem ganz herrlichen Licht. Andere werfen mir Verherrlichung vor. Kann sein. Ich habe so viel von ihm gelernt. Ich bin ihm so dankbar. Das habe ich ihm Gott sei Dank noch gesagt und immer wieder, wie sehr ich ihn liebe.
Es war ein langer Abschied. Zwei Jahre hat der Schilddrüsenkrebs ihm auch noch die Knochen und die Lunge zernagt. Und dennoch war unser Abschied eine lange Liebeserklärung.
Ich sehe ihn noch im Rollstuhl sitzen. Der Rollstuhl stand vor dieser Tür und er hatte einen Schmerzanfall. Er krümmte sich vor Schmerzen. Die Ärzte und ein Heiler haben alles für ihn getan, aber auch Schmerzmittel haben Grenzen und Nebenwirkungen. Ich sah sein von winzigen Schmerzfurchen überzogenes Gesicht. Er klagte nicht. Er weinte stille Tränen und ich hielt seinen Kopf und streichelte sein Gesicht. Ich hielt seine Hand, seinen Kopf, wiegte ihn in meinen Armen wie ein Kind. Ich konnte nicht weglaufen. Ich mußte warten, bis der Schmerzanfall vorüber war.
Manchmal dauerte es Stunden. Niemand konnte diesen Anblick ertragen. Niemand. Bei diesen Schmerzanfällen sind Ärzte und Pfleger aus dem Zimmer geflohen. Niemand konnte ihm helfen. Mein Sohn nahm dieses Skateboard und floh hinaus in den Park. Er weinte. Er weinte allein da draußen. Ich konnte nicht fliehen, dabei wäre ich auch am liebsten mit meinem Sohn in den Park geflohen. Wie gern hätte ich ihm diesen Schmerz abgenommen. Aber ich hätte ihn niemals allein lassen können. Es tat weh. Sein Schmerz bohrte sich in meine Seele.
Nach diesen Schmerzanfällen war er immer so glücklich über die Schmerzfreiheit, so glücklich in seinem weichen Bett auf der Wechseldruckmatratze. Er nahm so dankbar mein Abendbrot. Er sah mich an und sagte: "Ich hab dich so lieb." Diese Liebe war so echt, so spürbar. Nicht nur Worte. Das hat er nie gemacht. Keine Lippenbekenntnisse. So hat er mich belohnt.
Warum erzähle ich das alles? Weil ich so traurig bin. Weil so viele Menschen traurig sind. Viele Menschen hören mir zu. Er hat mir erzählt, daß er mit seiner Krankheit, dem Krebs und der daraus resultierenden Lähmung, lernen mußte, auch selbst Hilfe anzunehmen. Ich lerne. Ich habe gelernt, daß die Liebe zwischen zwei Menschen niemanden ausschließt. Die Liebe verteilt sich und sie streut auch ihre Metastasen aus. Ich habe gelernt, die Menschen zu lieben, weil ich ihn liebte. Die Liebe an sich war Freude in sich selbst.
Seine Seele ist unsterblich in mir. Sein Wissen ist noch in meinem Kopf. Sein Wissen ist meine Liebe. Manchmal wache ich auf und denke, es war alles nur ein schöner Traum. Ein Traum vom Paradies. Und nun bin ich zurückgefallen in die Einsamkeit meiner Kindheit. Ich werde wieder ein Kind. Ich werde älter. Ich sage den Kindern, daß die Liebe kein Traum ist. Man muß daran arbeiten. Aber im Prinzip ist sie schon da.
Es war kein Traum. Seine Fotos hängen überall an der Wand. Er wird nur nicht mehr durch diese Tür kommen. Nie mehr. Wenn ich sterbe, dann gehe ich auch durch diese Tür. Ich werde einen neuen Raum betreten. Bis dahin muß ich meinen Schmerz durch die Zeit tragen.
Ich nehme den Schmerz an. Ich schreibe mich durch die Nacht. Die Uhren sind umgestellt. Winterzeit. Immer noch Vollmond. Der Wolf heult. 2.27 Uhr. Ich schreibe mich an die Lichtschwelle des Tages. Nebenan höre ich das Klicken der Tastatur. Mein Sohn schreibt sich ins Internet. Mein Computer summt synchron. Unser alter Freund Joe schreibt sich auch durch die Nacht. Ich bin nicht allein. Wir sind nicht allein. Ein blauer Engelsflügel auf meinem Bild von der Tür?