Der Traum
Es war unser erstes Rendezvous. Er wartete auf mich vor der Apotheke am Hauptbahnhof. Ich kam zu spät. Viel zu spät. Er wartete mindestens eine halbe Stunde auf mich. Den ganzen Tag hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich für ihn schön gemacht. Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Wie eine Märchenfee wollte ich vor ihm erscheinen. Make-up bis zur Ohnmachtsblässe für die Femme fatale, ein Hauch Lidschatten im romantischen Blau der Augen, Perlmuttglanzpuder (laß mich deine Auster sein, du meine Perle) und mit dem Pinsel Pfirsichrouge zum Anbeißen. Marylin Monroes Lippenstift für den Versuchungskuß, den verheißenden Schmollmund schon auf den Spiegel gepreßt, ein Abdruck auf dem weißen Spitzentaschentuch als zukünftiges Andenken schon in die Tasche gesteckt, selbstredend wieder herausgenommen und kopfschüttelnd in den Wäschekorb geworfen, die Hand am heißen Lockenstab verbrannt, Locke für Locke gedreht und Haarspray bis zum Ersticken im Badezimmer versprüht. Die Wahl des Parfums: Appleblossom oder Patchouli? Ketten und Ringe ausprobiert, Koralle und Silber, nur nicht zu viel oder doch? Ein Blick zur Uhr und da war es schon zu spät!
Der ganze Tag war eine einzige Selbstbespiegelung gewesen. Ich hatte mich selbst in der Zeit verloren und war gefangen in Spiegelwelten, in der Welt meiner Märchen und Wünsche und Tagträume. Ich hatte ein riesiges Pfauenrad geschlagen für den großen Balztanz. Ich hatte die Zeit in Selbstverliebtheit vergessen, weil ich so verliebt war. Liebe auf den allerersten Blick. Sie hatte mich wie ein Blitz getroffen.
Amor hatte einen Pfeil abgeschossen. Er hatte sich schon angekündigt. In meinen Träumen sah ich Pfeile. Sie kamen durch den Briefkastenschlitz. Welch ein Frühling, das Aufblühen der Liebe! Was für ein Fest! Neue Räume taten sich auf, eine Flut der Gefühle. Ich war der Kindheit entwachsen. Ich blühte auf wie eine Rose. Ich fühlte mich frei. Nun hatte ich das Ziel aus den Augen verloren. Die Zeit vergessen. Ihn vergessen!
Ich rannte den ganzen Weg zur U-Bahn. Verdammte Zeit! Ich wollte sie anhalten. Tagträume stehlen die Zeit. Träume kennen keine Zeit. Sog der Traumtunnel. Sing der Erde ein Lied. Ich rannte und rannte. Würde er auf mich warten? Ich rannte gegen die Zeiger der Uhr an. Ich rannte um mein Leben, meine Liebe. Jetzt schon das schiefe Bild erschaffen, daß ich ihn absichtlich warten ließ? Sieh her, wie wichtig und unzuverlässig ich bin! Femme fatale! Warum nicht zur Uhr geschaut? Warum an der Maskerade hängen geblieben? Es war mir doch ernst. Kein Spiel.
Ich lief atemlos, nach Luft ringend, mich selbst hassend. Der Narziß in mir ging mir auf den Wecker. Neuerdings hatte er immer die Oberhand. Ich rannte über die Straße und sah ihn immer noch vor der Apotheke stehen. Gott sei Dank! Er ging langsam auf und ab, aß voller Hingabe Pommes Frites aus der Pappschale und spähte mit leicht lauerndem Blick, hielt Ausschau nach mir, geduldig, ohne Groll. Ich entschuldigte mich. Keine Ausreden! Ich erzählte ihm einfach die Wahrheit. Er hörte mir aufmerksam zu, lief dann langsam immer im Kreis um mich herum, betrachtete mich von oben bis unten und sagte dann trocken: "Hat sich gelohnt. Das Warten, meine ich."
Der lauernde Wolfsblick verwandelte sich in offene Bewunderung. Freude wie ein Wetterleuchten! Ein zauberhaftes Lächeln glitt über sein ganzes Gesicht. Er strahlte und ich lachte vor Glück. Unendliche Erleichterung! Er war mir nicht böse. Er war nicht nachtragend. Man konnte mit ihm reden. Erklären. Er hatte Verständnis und er hatte Humor. Ich war so verliebt.
Sonnabend 22.28 Uhr. Digitale Zeit. Analoge Zeit. Immer noch im Raum-Zeit-Kontinuum. Die Zeit ist eine Veränderung von Zuständen. Es gibt keine ideale oder absolute Zeit. Die Zeit ist ein Gefühl. Zeitgefühl. Zeit ist die subjektive Form des inneren Sinnes. Sein und Zeit sind Wirklichkeit. Seit Einsteins Relativitätstheorie kann der Raum nicht mehr ohne Bezug auf die Zeit definiert werden. Ich wühle mich durch das Lexikon. Ich habe unendlich viel Zeit. Was ist Zeit? Zeit zum Denken. Zeit zum Erinnern. Es denkt sich durch mich. Zeitgeist. Der Zeitgeist schreibt Geschichte durch uns. Wir sind die Schuppen auf der Haut einer uralten Schlange, sagt Jim Morrison. Im Nebenraum läuft der Fernseher. Familienprogramm. Mein Sohn bringt die Freundin zum Bahnhof. Das Familienprogramm stürzt in meinem Computer ab. Hier fehlt immer einer. Es regnet draußen. Es hat den ganzen Tag geregnet. Die Freundin meines Sohnes bekommt einen Kuß vor der Tür. Sie ist seine erste Liebe. Ich bin auch immer noch verliebt. Ich bin verliebt in einen Toten. Er ist herausgetreten aus dem Raum-Zeit-Kontinuum. Einfach verschwunden. Meine kleine Geschichte ist ein Teil der großen Geschichte. Alle Geschichten handeln letztendlich von Liebe und Tod.
Ich muß weit ausholen, um wieder anknüpfen zu können. Ich webe den Teppich für die Rückkehr des Odysseus, obwohl er niemals heimkehren wird. Er hat seine Irrfahrten hinter sich. Er hat den Fährmann bezahlt zur großen Überfahrt. Mein Schiffchen webt die Erinnerung, spinnt Traumfäden. Ist das Gesetz von Raum und Zeit im Traum aufgehoben? Ich will vom Traum erzählen und wie unsere Liebe begann:
Er bot mir seinen Arm an. Ich hakte mich unter. "Darf ich dich entführen? Ich möchte dich zu einer Spazierfahrt einladen. Eine kurze Fahrt mit dem Bus." Er war sehr groß und hatte lange Beine. Ich mußte mich an seine schnellen Schritte gewöhnen. Er ging langsamer, damit ich Schritt halten konnte. Es war ein wunderschöner und sonniger Tag im Juni. Es war der erste Feriensommertag und es war der erste Tag, den ich mit ihm verbrachte.
Warum trug er eine Jacke über dem Arm? "Vielleicht verbringen wir den ganzen Tag zusammen. Sommerabende können kühl sein. Die Sonne wird untergehen und du könntest frieren. Deshalb habe ich sie mitgebracht, damit du nicht frierst."
Er stieg in den Bus und bezahlte das Fahrgeld. Beim Einsteigen wurden mir die Knie weich. Mein Herz begann laut zu pochen. Ich ging wie auf Wattewolken. Die Beine knickten zusammen und ich stolperte. Er fing den Sturz ab. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme gestürzt. Meine Nerven zitterten, weil ich so verliebt war. Die Liebe schien wie eine Krankheit. Ich hatte körperliche Symptome. Man hatte mir davon erzählt und ich hatte es nicht geglaubt. Mein Herz pochte und hämmerte doppelt so laut. Mein Herz schlug nur für ihn. Konnte nicht jeder im Bus mein Herz schlagen hören?
Der Bus fuhr um die Kurve. Ich sah den ZOB-Bahnhof, da flüsterte er mir leise in das Ohr: "Mein Herz pocht und meine Knie sind weich. Ich glaube, ich bin verliebt." Der Bus war ein Fahrstuhl in den siebten Himmel. Ding-Dong! Siebter Stock: Himmelspforte, das Tor zum Glück. Ein paar Groschen Fahrgeld für den Eintritt in das Paradies. Die Straßen rasten an mir vorbei. Zwischen den Autos sah ich Wolken. Palmen standen am Straßenrand. Er trug ein rosa Hemd mit winzigen Knöpfen. Ich war auch in sein Hemd verliebt. Es war so zart und leuchtete und leuchtete. Die Häuser waren Paläste. Sie waren rosa. An diesem Tag hatte ich die rosarote Brille der Liebe entdeckt. Ich bin bis heute blauäugig. Die Liebe macht nicht blind. Die Liebe läßt alles in einem anderen Licht erscheinen: ein sanftes und harmonisches Rosa.
Er brachte mich an einen Ort, den er sehr liebte. "Darf ich deine Hand nehmen?" Ein warmer Strom floß durch meinen Körper. Er zog mich langsam und vorsichtig durch kleine Seitenstraßen, bis wir in einem großen Hinterhof landeten. Ein Zeltdach war über den freien Himmel gespannt, urige Holztische und Bänke waren darunter aufgestellt und in einer Ecke rauchte der Holzkohlengrill. Es gab Fleisch vom Spieß, bunte Salate und Gemüse, Wein und Cola für ganz wenig Geld. Überall saß exotisches Zigeunervölkchen herum, junge Hippies lasen in Büchern und Comics, zwischen den Hausaufgaben verhauten Asterix und Obelix die ollen Römer. Kinder spielten Versteck hinter den Röcken der Mütter, eine schöne Frau mit schwarzen Haaren und goldenen Armreifen ging herum und las aus der Hand. Sie kam an meinen Tisch, während er mir einen Teller Salat servierte. "Darf ich der jungen Dame aus der Hand lesen?" Er lachte ihr ins Gesicht: "Das mache ich. Ich kann es." "Du kannst es?" "Ja". Er nahm meine Hand und sie sah ihn verblüfft an.
"Heute ist ein junger Mann in ihr Leben getreten. Er sieht mir sehr ähnlich. Nein, er sieht genauso aus wie ich. Er weiß, daß sie schön und klug ist. Dieser junge Mann ist ein Prinz. Er ist der kleine Prinz. Wenn er sie zähmt und sie ihn zähmt, dann wird er eines Tages um diese zarte Hand anhalten. Sie hat ihren Prinzen gefunden und sie werden glücklich sein, wenn nichts dazwischenkommt."
Er streichelte ganz zart über die haarfeinen Linien meiner Hand und sah die Frau an: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar. Das sagt der kleine Prinz." Sie lachte und klimperte mit den Armreifen: "Du erzählst heute wieder deine Märchen. Du wickelst alle um den Finger. Du willst mit dem Mädchen allein sein. Ich verstehe. Du kannst wirklich gut aus der Hand lesen. Du hast gewonnen."
Sie lachte noch einmal hell auf und tändelte dann weiter von Tisch zu Tisch. Später kamen Musiker in den Hof. Er bestellte Wein für den Bandoneon-Spieler, der einen guten Tag gehabt hatte. Die Musiker hatten auf einer Hochzeit gespielt und auf einer Bar-Mizwa und nun klingelte das Silber in ihren Taschen. "Sieh nur, das ist mein Mädchen. Ist sie nicht schön?" Lachen und nicken. "Spielst du einen Tango für sie?" Der Bandoneon-Spieler spielte den wahren und echten Tango nur für mich. Andere Musiker kamen dazu und dann spielten sie Stücke von Django Reinhardt. Er tanzte mit mir, zog meine Hüfte an seine Hüfte, ein paar Schritte vorwärts und gedreht; und dann tanzten wir Wange an Wange. Es knisterte zwischen uns. Sein Mund war so schön und verführerisch. Ich sehnte mich nach einem Kuß.
Andere Paare tanzten um uns herum. Ich war unendlich glücklich an diesem Tag. Nach dem Tanz setzten wir uns wieder an den Tisch. Er zog ein blaues Taschenbuch aus der Jeanstasche und legte es neben sich, damit es nicht knickt. Eine Horde Schulfreunde kam auf ihn zu. Ein rotblonder Junge rief: "Hey, was liest du da? Ein neues Buch?" Er schüttelte den Kopf: "Das schleppe ich schon ewig mit mir herum." "Zeig her!" Er schüttelte wieder den Kopf und steckte das Buch wieder in die Tasche. Der Rotschopf rief den Freunden zu: "Sonst hat er immer nur die kleinen Reclam-Hefte in der Tasche. Er liest ja gerade mit Begeisterung den Georg Büchner, aber nun hat er schon wieder eine neue Freundin und kommt nicht zum Lesen. Hatte er nicht einen Eid geschworen? Nie wieder eine Frau ansprechen! Er ist ein Frauenheld und kann es nicht lassen. Na, bei dem Exemplar! kein Wunder. Er schnappt uns alle schönen Frauen weg, damit müssen wir uns wohl langsam abfinden." Die Horde mimte lautstark Enttäuschung. Jetzt war er aufgestanden, nahm meine Hand und zog mich ganz schnell durch die Menge.
Nach einem langen Spaziergang saßen wir am Ufer der Alster. Die Sonne war schon lange untergegangen. Er hatte mir sein Jackett über die Schultern gelegt: "Du frierst." "Nein, du frierst." "Nein, du." Die Silhouette der Bäume war schwarz. In der Ferne sah man die bunt beleuchteten Alsterdampfer auf dem dunklen Wasser schweben und wir hörten leise die Musik an Bord zu uns herüberwehen. Hinter uns stand das moderne Kunstwerk. Es zeigte drei große gewundene Löcher aus Stein. "Weißt du, was diese Skulptur bedeutet?" fragte ich ihn. Er umfaßte das Werk mit beiden Händen, streichelte es und sagte: "Es ist rund. Runde Formen sind schön, weil sie weiblich sind. Frauen sind das Schönste auf diesem Planeten. Sie sind ein großes Geheimnis. Ich will nur dieses Geheimnis erforschen."
Ich sah ihm tief in die Augen und dachte, daß er das größte und wunderbarste Geheimnis sei. Er zog wieder das Buch aus seiner Hosentasche und sagte: "Ich lese immer wieder darin. Es ist die Traumdeutung von Sigmund Freud. Dieses Buch läßt mich nicht los. Kennst du Sigmund Freud?" "Meine Mutter hat eine Biographie über ihn. Es sind etliche Bände. Ich kenne seine Theorien nur oberflächlich. "Besitzt deine Mutter die Jones-Biographie?" Ich nickte. "Das finde ich ja toll, daß deine Mutter sich für Sigmund Freud interessiert. Dann liest du sicherlich auch gern?" Ich nickte und erzählte ihm, wie sehr ich mich für Literatur begeistern konnte. Meine Begeisterung schien ihn zu freuen. Wir unterhielten uns eine ganze Weile über Autoren, die unsere Helden waren, aber dann zeigte er wieder auf das Buch und sagte: "Wußtest du, daß jeder Traum eine Wunschvorstellung ist? Die Wünsche verkleiden sich. Sie inszenieren ein Theaterstück aus Tagesresten. Der Zensor, ein Repräsentant des Über-Ichs, läßt die unbewußten Inhalte nicht ohne Masken passieren. Wenn sie unverkleidet hindurchschlüpfen, dann wird es ein Alptraum und du erwachst. Der Traum ist der Hüter des Schlafes. Via Regia."
Er machte eine Pause, sah zu den Sternen hinauf und sagte: "Via Regia, das ist der Königsweg. Diesen Weg will ich auch gehen. Ich möchte später einmal die Seele des Menschen studieren. Die Träume erhellen das Dunkel im Unbewußten wie die Sterne den Nachthimmel. Man muß den Freud sehr genau lesen. Er schreibt sehr schön. Ich will das Buch noch einmal lesen, dann kann ich dir alles besser erklären." Er zeigte mir das Buch im Mondlicht. Er hatte mit dem Füller "Per aspera ad astra" hineingeschrieben. "Das ist mein Leitspruch: Über rauhe Pfade zu den Sternen."
Wir schwiegen eine Weile. Sein tiefes Wesen, seine Heiterkeit und sein Schweigen, alles an ihm berührte mich so sehr, daß ich beinahe Angst bekam. Er war ein leibhaftiger Dichter, ein Philosoph, ein Sucher, ein Träumer, aber voller Stärke und Willenskraft. Ich vergaß mich selbst. Narziß in mir war vollkommen zum Schweigen gebracht. Ich fühlte mich wieder wie ein staunendes Kind. Ich erzählte ihm, daß ich als Kind in Marokko gewesen war: "Dort erzählen die Frauen sich jeden Morgen ihre Träume. Ich träume sehr viel. Ich würde dir gern jeden Morgen einen Traum erzählen und du wirst ihn deuten und die Wünsche entkleiden."
Er sah mich zärtlich von der Seite an und sagte: "Ich träume sehr wenig. Wie gut, daß ich dich getroffen habe. Ich brauche dringend einen Träumer! Das stelle ich mir sehr schön vor. Wie klug sind doch die Menschen im Morgenland. Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Es ist wahr, daß es mir leicht fällt, eine Frau anzusprechen. Mit dem Image des Frauenhelden kann ich leben. Es schmeichelt mir. Ich habe nur immer Pech gehabt. Die Mädchen interessierten sich nicht für meine Träume. Sie interessierten sich mehr für Kleider. Ich habe bisher immer nur oberflächliche Frauen kennengelernt und mich auf keine wirklich einlassen können. In Wahrheit bin ich ein Grünschnabel. Wenn du weißt, wer ich wirklich bin, wirst du mich dann lieben können?" In diesem Moment mußte ich es sagen: "Ich liebe dich jetzt schon." Er lächelte. "Wie schön. Ich bin auch verliebt in dich, sogar sehr verliebt. Aber ich werde diesen Satz, diesen einen Satz erst sagen, wenn ich es wirklich weiß. Man sagt ihn so schnell. Ich muß ganz sicher sein."
Wir sprachen noch lange miteinander und konnten uns nicht voneinander trennen. Mit Mühe und Not erreichten wir den letzten Zug, der ihn nach Hause brachte. Ich winkte ihm noch lange nach. Seit dieser Alsternacht mit dem Mond und der Musik und den Lichtern, da hatte ich nur noch einen Wunsch: Ich wollte mit ihm unter einem Dach leben. Ich wünschte mir ein Nest für uns beide. Ich wollte ihm jeden Morgen meine Träume erzählen.
Mittwoch 20.51 Uhr. Das Radio läuft leise im Zimmer meines Sohnes. Der Kessel dampft auf dem Herd. Ich koche Kaffee für mich ganz allein. Ich werde ihn neben den Monitor des Computers stellen. Ich verliere mich in der Erinnerung und will sie festhalten, will nur noch schreiben. Die Zeit vergeht und das Papier hält sie fest in meinen Buchstaben, holt sie zurück, macht Vergangenheit sichtbar in der Vorstellung und der Phantasie meines unsichtbaren Lesers, für den ich unsichtbar bin. Ich spiele mit einem Zeitlasso.
Am Sonntag las ich noch einmal den kleinen Prinzen. Da ging mir ein Licht auf. Der kleine Prinz hat mir aus der Hand gelesen. Ich war seine einzige Rose unter den vielen Rosen gewesen und ich hatte den ganzen Tag Morgentoilette gemacht, weil ich so eitel war wie die Rose des kleinen Prinzen. Ich habe ja dieses Buch gelebt. Ich bin dem kleinen Prinzen tatsächlich begegnet. Schade, daß ich es diesem heiligen Mann des Wortes, dem Antoine De Saint-Exupéry, nicht mehr berichten kann, weil er doch am Ende des Buches darum bittet. Er ist jetzt bei den Unsterblichen und mein Brief erreicht ihn nicht mehr. Ich denke an die großen Totengeister! Die Toten können so lebendig sein! Ihre Gedanken befruchten noch immer unseren Geist.
Als ich sieben Jahre alt war, da schenkte mein Vater mir das Buch "Der Kleine Prinz" von Antoine De Saint-Exupéry. Als ich es gelesen hatte, da weinte ich und konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Mein Vater fragte mich, ob mir denn das Buch nicht gefallen habe. "Warum weinst du nur so?" Ich schluchzte: "Es ist kein Buch für Kinder." Mein Vater fühlte sich hilflos und versuchte mich zu trösten: "Doch. Es steht im Vorwort. Er hat dieses Buch nur für Kinder geschrieben, weil nur die es verstehen." Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, antwortete ich: "Nein. In diesem Buch steht die ganze Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. Ich habe es gelesen und bin auf einen Schlag erwachsen geworden. Die ganze Wahrheit auf einmal. Warum mußte der kleine Prinz sterben? Warum gab es für ihn keinen anderen Weg, um auf seinen Heimatplaneten zu kommen? Warum hat er sich von der Schlange beißen lassen?"
Dieses Buch war die geheimnisvolle Mystik. In diesem Buch hatte ich sie entdeckt und begriffen. Hatte der kleine Prinz nicht kurz vor seinem Tode gesagt: "Es wird dir Schmerz bereiten. Es wird aussehen, als wäre ich tot, und das wird nicht wahr sein. Du verstehst. Es ist zu weit. Ich kann diesen Leib da nicht mitnehmen. Er ist zu schwer." Nun hat mich die Erinnerung wieder zu diesem Buch geführt. Was hat man gewonnen, wenn man dieses Buch gelesen hat? Die Farbe des Weizens. Sie erinnert uns an die Haarfarbe des kleinen Prinzen. Sie erinnert uns daran, daß die Liebe möglich ist.
Antoine De Saint-Exupéry spricht für mich, wenn er im "Kleinen Prinzen" sagt: "Denn ich möchte nicht, daß man mein Buch leicht nimmt. Ich empfinde so viel Kummer beim Erzählen dieser Erinnerungen. Es ist nun schon sechs Jahre her, daß mein Freund mit seinem Schaf davongegangen ist. Wenn ich hier versuche, ihn zu beschreiben, so tue ich das, um ihn nicht zu vergessen. Es ist traurig, einen Freund zu vergessen. Nicht jeder hat einen Freund gehabt."
Meine Träume sind in Erfüllung gegangen. Wir haben uns im Laufe der Zeit vier Nester gebaut und immer unter einem Dach gelebt. Er hat diesen einen Satz zu mir gesagt. Er hat ihn mehrmals gesagt: "Ich liebe dich". Ich habe ihm fast jeden Morgen beim Frühstück meinen Traum erzählt. Er ließ mich selbst den Wunsch entkleiden, indem er meinen Gedanken freien Lauf ließ. Manchmal stellte er eine Frage oder nickte, heimlich lenkte er die freie Assoziation bis zum Aha-Erlebnis. Er war ein guter Zuhörer und er liebte meine Träume und meine Phantasie. Sechsundzwanzig Jahre sind vergangen. Damals sind wir noch Kinder gewesen. Damals an der Alster.
Zwanzig Jahre später, wenige Jahre vor dem Ausbruch seiner Krankheit, da hatte ich einen ganz besonderen Traum, der sehr intensiv in mein Bewußtsein getreten war und der mich nicht mehr loslassen wollte. Dieser Traum wollte unbedingt erlöst werden. Es war ein schwerer Brocken. Beim Aufwachen konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Bei diesem Traum war alles anders. Diesen Traum hat er allein gedeutet. Die Erinnerung daran ist eine Perle für mich. Diese Perle will ich niemals vor die Säue werfen. Es ist das Geheimnis des kleinen Prinzen. Diese Perle entsteht aus meinem Schmerz und sie wird in meiner Austernwelt geboren. Sie entsteht hier auf der Tastatur meines Computers. Der Schmerz ist mein Fremdkörper. Ich soll ihn in meinem Herzen zum Glanz polieren. Dieses Herz ist fast zerbrochen. Dennoch schreibe ich.
"Warum schreibst du?", fragte mich meine Nachbarin. "Ist dein Leben so interessant gewesen?" Ich habe einfach ja gesagt. Ich glaube, daß jedes Leben interessant ist. Wirklich jedes. Jeder Mensch könnte ein Buch schreiben, einen Lebensroman, wenn er es wollte. Mein Leben ist der reinste Durchschnitt. Die kleinen Begebenheiten machen alles interessant. Wenn aber alle Leute nur noch schreiben, dann haben wir kein Wasser und kein Brot und kein Dach über dem Kopf. Jeder Mensch hat eben seine eigene Passion und jede gute Tat ist wichtig. Besonders das Fegen und das Kochen und das Putzen. Um diese Dinge sollte sich auch jeder Poet noch kümmern müssen. Der Schriftsteller Peter Handke sägt die Äste der Bäume in seinem Garten, damit er später die richtigen Worte findet. Wenn man sich aber der Poesie verschreibt, dann fühlt man sich oft wie ein Schaumschläger, weil man nur Worte produziert. Vielleicht ist meine Erinnerung keine Perle. Vielleicht ist sie eine Seifenblase. Seifenblasen sind die Perlen des Augenblicks.
Als ich einmal krank war, da schenkte er mir das Buch "Ansichten eines Clowns" von Heinrich Böll. Dieser eine Satz aus diesem Roman hat mich nicht mehr losgelassen: "Ich bin ein Clown und ich sammle Augenblicke." Dieser Satz hat mich zum Schreiben gebracht. Ich wollte die Augenblicke festhalten und damit Gottes Schöpfung preisen.
Es gibt so viele Zuchtperlen. Gezüchteter Schmerz ohne Glanz. Echte Perlen sind selten. Die jüdischen Mystiker sagen, daß man sich von Gott kein Bild machen kann. Wer ihn erblickt, muß sterben. Sie sagen, daß Gott unergründlich ist, aber man kann ihn hören. Er offenbart sich in den Gedanken, wenn wir nach innen lauschen. In der Finsternis umgibt ihn eine Aura, das Ain Soph. Sie sagen, daß dieses Ain Soph nur mit dem Glanz einer Perle verglichen werden kann. Der Glanz meiner Perle ist die göttliche Weisheit. Sie schien durch seine Augen.
Es war im Spätherbst. Es regnete unaufhörlich. Es war wohl um die gleiche Zeit wie jetzt. Mitte November, dunkel und trüb und grau. Ich hatte diesen ganz besonderen Traum gehabt und war von ihm umsponnen. Wir saßen am Frühstückstisch. Der Kaffee dampfte. Es war Sonntag und wir hatten Zeit. Zeit für ein Gespräch und Zeit für einen Spaziergang. Er lächelte mich an und sagte: "Erzähle mir deinen Traum und alles, was dir dazu einfällt."
Also gut. Meine Rede begann zögerlich: "Ich ging eine Straße entlang. Es war eine seltsame Gegend in der Nähe des Hafens. Die Straßen waren leer im Morgengrauen. In diesem Traum war ich in einer anderen Zeit, irgendwo in der Vergangenheit. Ich fühlte mich ganz allein und verlassen, da hörte ich die Hufeisen eines Pferdes auf dem Kopfsteinpflaster. Ich drehte mich um und erblickte dich auf dem Kutschbock eines Brauereiwagens. Ein Kaltblüter zog die schwere Kutsche und du hattest die Zügel in der Hand. Ich kenne diese Wagen mit den Pferden noch aus meiner Kindheit. Ich war so glücklich, dich zu sehen. Du fragtest mich, wo ich denn hingehen wolle. Ich wußte es nicht. Ich hatte mich wohl verlaufen. Du erzähltest mir, daß du gute Aufträge von der Brauerei bekommen hättest und noch einige Touren Bier ausliefern müßtest, dann würdest du aber zu mir kommen und bei mir bleiben. Ich sah all diese Bierflaschen und dachte, daß diese schwere Arbeit und diese Kunden nicht dein Bier seien.
Wenn ich jetzt über den Traum nachdenke, dann kommt mir der Sanktus Spiritus in den Sinn. Man könnte sagen, daß du im Moment den Geist in Flaschen verkaufen willst. Du kämpfst momentan an der Universität um die Gedanken von C.G. Jung in deiner Diplomarbeit. Du weichst keinen Schritt zurück und setzt alles aufs Spiel und du wirst gewinnen, wie immer. Aber die Dogmatiker kämpfen um Ämter. Sie haben kein Herz. Es sind Kaltblüter. Du willst deinen Wagen durch das Leben steuern. Du fährst nebenbei auch noch Taxi. Du bist ein Kutscher. Deine Arbeit für das tägliche Brot ist schwer und dieser Gedanke tut mir weh. Meine Arbeit ist auch nicht immer leicht. Manchmal denkt man, das Leben wird schwerer, je älter man wird. Der Geist wird immer jünger und lebendiger, aber der Körper wird schwächer. Vieles wiederholt sich und man glaubt oft, daß nichts mehr ganz neu ist. Es tut mir so weh, wenn ich sehe, wie sehr du dich abrackerst. Jeden Freitag schleppen wir die schweren Einkaufstüten in das Haus. Die Materie wiegt schwer. Es hat uns auch einige Mühe gekostet, das Nest mit unserem Vögelchen. Bei dem Kutschpferd denke ich aber auch an Friedrich Nietzsche. Seine Gedanken über die Welt haben ihn verrückt gemacht. Er wurde verrückt, als er sah, wie ein Kutscher sein Pferd schlug. Ich fühlte mich in diesem Traum auch ein wenig müde. Dieser Anblick, wie du da dieses schwere Pferd gelenkt hast und dann die vielen Kisten Bier, es hat mir das Herz so angerührt.
Aber dann sagtest du in diesem Traum zu mir: "Hast du nicht immer von einem Haus am Meer geträumt? Ich habe dir ein Haus am Meer gekauft. Ich habe viel Geld verdient. Ich wollte dir unbedingt diesen Traum erfüllen. Ich bringe dich jetzt zu deinem Haus am Meer, fahre noch ein paar Touren, die muß ich dringend erledigen, dann komme ich zu dir." Im Traum war ich sehr überrascht. Zuerst wußte ich nicht, wo ich hingehen sollte und jetzt hatte ich ein Zuhause. Ich habe mir ja wirklich immer ein Haus am Meer gewünscht. Mein Traum. Ein uralter Traum. Du hast mich dann zu diesem Haus gebracht. Ich stieg auf deine Kutsche und schon waren wir am Meer. Es war ein großes, wunderschönes Haus. Wie in Hollywood. Es hatte eine Veranda und einen Balkon, einen Vorgarten und die Rückseite lag direkt am Meer. Das Rauschen des Meeres war Musik in meinen Ohren. Du hast noch zum Abschied gewinkt und mir den Schlüssel gegeben. Also bist du in meinem Traum ein ganz reicher Mann gewesen. Dein Geist hat dich reich gemacht. Vielleicht wünsche ich mir das.
In diesem Haus war alles schön eingerichtet. Dort standen Weidenkorbstühle auf einem gelben Sisalteppich. Es gab einen Schreibtisch und einen Eßtisch, der mit Blumen und Früchten dekoriert war. Das Fenster war überdimensional groß. Die Wände waren aus Mauerstein. Ich stand vor dem Fenster und sah direkt auf das Meer. Die Sonne schien hell und gelb und orange, sie war ein riesiger Feuerball. Ich sah einen grandiosen Sonnenuntergang. Das Meer war dunkel und rauschte, ein Stück Strand war zu sehen. Die Lichter der Sonne tanzten auf den Wellen. Die Sonne war heiß. Sie brannte direkt auf meine Haut und das Fenster bot keinen Schutz, sondern verstärkte die Intensität der Sonnenstrahlen.
Im Traum lebte ich drei Tage in diesem Haus. Die Sonne wollte aber einfach nicht untergehen. Es wurde heißer und heißer. Ich hatte Angst zu verbrennen und suchte ein Versteck vor der Sonne. Ich kauerte mich auf den Boden, aber es half nicht. Ich suchte ein Versteck vor dem Haus und hinter dem Haus, in jedem Zimmer, aber die Sonne wollte mich verbrennen. Ich suchte Schutz und fand keinen. Das Meer war zu dunkel und zu tief. Die Sonne zu heiß und zu hell. Am Ende sah ich den schönen Jüngling Tadzio im Wasser stehen. Kannst du dich an die Novelle "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann erinnern? Ich sah diesen schönen androgynen Knaben mit den Augen des alten Aschenbach, der in einem Strandkorb stirbt und noch einen letzten Blick auf seine Liebe wirft.
Tadzio winkte noch einmal zum Abschied im Sonnenuntergang und neben ihm schwamm ein roter Ball auf dem Wasser. Er trieb dahin. Das Spiel ist aus, dachte ich. Ich glaube, daß die fünfte Symphonie von Mahler über dem Meer erklang. Es gab keine Trennung zwischen dem Innen und dem Außen mehr. Mir fehlte der Abstand.
Der rote Ball auf dem Wasser war wohl der Geschichtenball aus meiner Kindheit. Ich erinnere mich: Wir warfen den Ball gegen die Wand und erzählten dabei Märchen und Geschichten. Wenn der Ball auf die Erde fiel, dann kam ein anderes Kind mit einer neuen Geschichte an die Reihe. Die Geschichten flossen mir immer von oben her zu. Ich erzählte und erzählte und der Ball hielt sich immer lange in der Schwebe. Wenn er auf den Boden fiel und ich ihn abgeben wollte, dann riefen die anderen Kinder: "Gildet nicht. Mach weiter." Wenn mir die Luft ausging, ließ ich ihn absichtlich fallen, aber die Kinder riefen: "Gildet nicht. Wie geht die Geschichte weiter?" Ich war immer ganz stolz, daß die anderen Kinder meine Geschichten so gern hören wollten.
Der Ball wird in meinem Traum von den Wellen fortgetrieben. Das Meer symbolisiert doch das Unbewußte und die Sonne das Bewußtsein. Apollo und Dionysos verschmelzen miteinander und das Leben wird ein Rausch. Es wurde alles zu viel, zu stark und zu intensiv. Ich drohte zu verbrennen, da hast du mich abgeholt.
Ich erzählte dir, daß die Sonne mich in diesem Haus verbrennen wollte. Du hörtest mir zu, warst ganz erschüttert, aber dann wolltest du dich beim Makler beschweren. Du sagtest, daß du mich sofort herausbringen wolltest und das Haus wieder verkaufen. Wir sind dann mit deiner Kutsche gefahren. Du hattest noch einen Auftrag zu erledigen, aber dann waren wir wieder an der Hafenstraße. Der Kreis hatte sich geschlossen.
Ich sagte dir, daß ich den Weg nach Haus allein finden würde. Wir wollten uns in unserer alten Wohnung treffen, die so schön schattig und kühl war. Ich sehnte mich so sehr nach unserer guten alten Wohnung mit den blauen Samtvorhängen im Schlafzimmer, diesem schattigen und luftigen Raum. Das Haus am Meer hatte sich als Illusion entpuppt. Dieser Wunsch war abgehakt. Ich war nun wieder auf der Suche nach dem, was ich schon immer gehabt hatte. Du fragtest mich: "Findest du den Weg?" Ich nickte. Dann sah ich dich mit deiner Kutsche fortfahren und der Abschied machte mich wieder traurig.
Ich habe mich dann aber doch verlaufen und kam dann plötzlich an der Wohnung meiner Eltern vorbei. Ich ging die Treppen hinauf und wollte wieder zu meinen Eltern. Ich wollte wieder Kind sein und suchte Geborgenheit. Es war aber niemand da. In allen Räumen gab es nur verrostete Waschbecken und Badewannen. Die Wasserhähne tropften und alles war verlassen. Also ging ich wieder, und kam dann in eine liebliche Gegend, die ich überhaupt nicht kannte. Dort gab es kleine Gassen und Handwerksbetriebe. Ein junger Schuster saß auf einer Bank. Er hatte langes Haar und er sah dir ähnlich. Ich fragte ihn nach dem Weg. Ich war völlig verzweifelt. Er saß da und schien nur auf einen Menschen zu warten, der ihn nach dem Weg fragen wollte. Er sah sehr vertrauensvoll aus. Ich fühlte mich von ihm angezogen und fragte: "Wie finde ich den Weg nach Haus?" Er sagte mit einer schönen Stimme: "Du findest den Weg. Du bist schon auf dem Weg." Ich war froh und ging die Gasse entlang, bog um die Ecke und fand einen kleinen Pfad. Auf einmal war mir klar, daß dieser junge Mann, den ich nach dem Weg gefragt hatte, Jesus gewesen war. Ich hatte ihn nicht erkannt. Ich erkannte ihn immer zu spät in meinen Träumen.
Ich wußte jetzt, daß ich träume. Ich erinnerte mich im Traum an andere Träume. Ich wußte, daß all dies nicht real war - und doch war es real. Ich dachte an das Erwachen. Da stand ich plötzlich vor unserer Haustür und du hast mich schon erwartet. Ich ging in das Schlafzimmer in unser Bett und die blauen Vorhänge waren zugezogen. Ich war so froh. Endlich daheim. Was bedeutet nur dieser Traum?"
Er hatte mir lange zugehört. Er hatte nicht genickt und keine Fragen gestellt. Er hatte mich nicht ein einziges Mal unterbrochen, während ich diesen seltsamen Traum erzählt hatte. Er war die ganze Zeit still gewesen. Ganz still. Er sagte: "Ich werde darüber nachdenken." Er sagte es mit ernstem Gesicht.
Wir räumten den Tisch ab und gingen spazieren. Wir sind nur um den großen Block gegangen. Wir gingen an der Kirche vorbei und wir betrachteten wieder einmal unser Lieblingshaus, ein Hausboot am Fluß, rot angestrichen und mit Blumenkübeln an Bord. Wir fütterten unsere geliebten Enten und auf dem Rückweg betrachteten wir die schönen chinesischen Teekannen im Schaufenster. Der Regen nieselte leicht vor sich hin und wir waren an diesem Tag ein wenig melancholisch, weil wir Fernweh hatten. Wir dachten an Kreta und sprachen von Myrtos, unserem Lieblingsdorf im Süden der Insel. Urlaub im nächsten Jahr. Er legte seinen Arm um meine Schulter und ich schlang meinen Arm um seine Hüften unter der Jacke. Am späten Nachmittag haben wir dann Kuchen gegessen und eine Kerze angezündet. Er nahm meine beiden Hände in seine Hand und sagte: "Ich habe über deinen Traum nachgedacht. Ich habe den ganzen Weg darüber nachgedacht. Sag mal, hast du Heimweh?"
"Wieso Heimweh?", fragte ich. "Ich bin doch hier zu Hause. Ich fühle mich hier so wohl. Du bist meine Heimat." "Nein, das meine ich nicht", antwortete er. "Möchtest du dorthin zurück, wo du hergekommen bist?"
"Was meinst du damit?", fragte ich wieder, weil ich ihn nicht verstanden hatte. Er sagte ernst: "Ich meine: hast du Heimweh nach Gott? Die Badewannen in deinem Traum symbolisieren die Gebärmutter. Du willst nicht in den Schoß der Erdenmutter zurück. Hast du Heimweh nach Gott, dem Ursprünglichen? Willst du dich hier auf dieser Erde wieder mit dem Ewigen verbinden? Hast du das Zeitlose erkannt?"
Er hatte den Punkt getroffen. Er hatte es ausgesprochen. Es war genau dieser eine Nerv. Der Traum war erlöst. Ich hatte nicht gewußt, daß es diese Sehnsucht in mir gab. Jetzt wußte ich es. Die Tränen brachen nur so aus mir heraus. Eine Flut der Gefühle. Ich schien mir selbst nahe zu kommen. Das war also auch in mir. Ich sah mich ganz neu, fühlte mich tief ausgelotet. Die Tränen waren eine einzige Befreiung. Ich hatte lange nicht mehr geweint. Er streichelte mein Haar und sah mich mit glänzenden Augen an. Seine Augen leuchteten ganz tief, voller Wissen und Erbarmen. Er streichelte meine Wangen und küßte meine Tränen. Leise flüsterte er: "Ich kenne das." Er sah mich so voller Liebe an. Er fühlte so mit mir. In diesem Augenblick war er wie ein guter Vater, ein weiser und alter Mann mit jungem Gesicht. Er tröstete mich wie ein Vater, der sein Kind in den Armen wiegt. Ich sah in seine Augen und erkannte eine Liebe, die sich mit der Weisheit verbündet hatte.
Danach wurde alles licht und freundlich. Ich sah alles mit anderen Augen und gewann neue Kraft. Mein Wesen war tiefer geworden, der Kreis zur Selbstfindung wollte sich schließen. Sehnsucht nach Einheit. Sehnsucht nach Gott. Heimweh nach dem Unbekannten. Alles wurde getragen von seiner Liebe. Er war das Band zwischen Himmel und Erde. Meine Heimat. Mein Urvertrauen. Mein Freund. Nicht jeder hat einen Freund gehabt.