Das Grab
Seit seinem Tod fahre ich fast jeden Tag auf den Friedhof, bei Wind und Wetter. Ich brauche den täglichen Spaziergang und ein Ziel auf dem einsamen Weg. Ich gehe im Kreis. Ich gehe von den Lebenden zu den Toten und kehre zu den Lebenden zurück. Täglich verlasse ich mein verlorenes Paradies, um es zu suchen. Als Wolfgang noch lebte, da wollte ich Weltreisen machen. Jetzt trete ich die Reise nach innen an. Die tägliche Reise zum Friedhof genügt mir. Der Grabstein sieht jeden Tag anders aus. Jeden Tag erscheint er in einem anderen Licht. Die Landschaften meiner Seele auf dem Papier sind mir abenteuerlicher im Kopf als die ganze Welt.
Ich kann mich nicht daran gewöhnen, daß er nicht mehr neben mir geht. Kein Arm zum Einhaken, kein Gespräch, kein Kuß, kein Geleitschutz mehr. Mein Gang ist unsicher geworden. Wir waren leidenschaftliche Spaziergänger! In den Wäldern und auf den Inseln des Südens deckt der Wind mit dem Sand unsere Fußspuren zu. Das Meer schwemmt unsere Betrachtungen an ferne Ufer. Die Vögel fliegen mit unseren Blicken davon und entschwinden in den Wolken.
Die ganze Stadt lebt von meinen Erinnerungen an unsere Spaziergänge. Ich verlaufe mich manchmal in den Erinnerungen und fühle mich auf einmal verloren zwischen all den vielen fremden Gesichtern. Der Weg zum Friedhof kennt keine Erinnerung. Auf diesem Weg bin ich die Vorübergehende. Auf diesem Weg gehe ich meinen Gedanken nach und betrachte die Wandlung im Wechsel der Jahreszeiten.
Der Friedhof ist mein Schutzraum und ein letzter Treffpunkt. An diesem Ort darf ich ein trauriges Gesicht machen. Ich darf noch einmal meine Liebe zu ihm zeigen. Liebe und Dankbarkeit: Blumen auf das Grab pflanzen, den Grabstein mit Wasser reinigen, welke Blüten zupfen, den Boden harken, frische Blumen in die Grabvasen stellen, eine Kerze für die Grablampe anzünden, ein ewiges Licht für die Nacht!
Die Menschen sollen sich an der Schönheit der Blumen erfreuen. Sie sollen sehen, daß der Mensch, der hier begraben liegt, geliebt worden ist. Die Menschen gehen hier langsamer und sprechen leiser, doch meistens schweigen sie. An diesem Ort herrscht die Stille. Ein tiefes Schweigen wiegt sich im Rauschen des Windes, im Gesang der Vögel, im Rascheln und Scharren der Katzen und Kaninchen im Gebüsch, im Gurren der Tauben hinter dem Verschlag unter dem Dach, im hellen Klang der Kirchenglocken, im Jaulen eines Hundes.
Im Sommer machte ich mir Notizen auf dem Weg zum Friedhof. Immer wieder blieb ich stehen und schrieb hastig mit dem Kugelschreiber in mein kleines Notizbuch. Die Leute wundern sich. Ein Notizbuch ist auffälliger als eine Kamera. Der Schreibende ist wunderlicher als ein Fotograf. Die Worte höre ich wie eine Melodie. Jedes Wort hat seinen eigenen Klang. Bilder verwandeln sich in Sprache. Sprache ist Ur-Musik. Der Schreibende liebt die Musik über alles. Er lauscht nach innen und hört auf die innere Stimme. Er erschafft neue Bilder in Umstandskleidern, weil er keine Musik machen kann. Der Schreibende übt sich im Scheitern an der Musik. Das Scheitern ist eine große Kunst!
Nach dem Regen gehe ich der Abendsonne entgegen. Das ganze Erdreich duftet nach Lindenblüten. Die letzten Spaziergänger kehren in das Altersheim zurück, schieben den Gehwagen vor sich her, langsam und gebückt. Meine Großmutter sagte immer zur mir: "Ich werde alt. Ich werde immer kleiner. Die Alten wachsen wieder der Erde entgegen."
Vor dem kleinen Imbiß am Sternschanzenbahnhof tanzt das Leben, da stranden sie im Weltuntergangswahn und holen sich immer wieder den letzten Kick. Da laufen sie hin und her, tanzen den Rap und tanzen sich in Technotrance. Ein junger Mann spielt Bongo im Nebel einer exotisch duftenden Marihuanawolke, die sich mit dem Lindenblütenduft der Bäume wie ein Parfum über die Stadt erheben will. Da rufen sie laut die Namen ihrer Hunde und Bierflaschen zerschellen am Straßenrand. Die Männer in Uniform lauern schon an der nächsten Ecke.
Seit seinem Tod haben sie diesen Stadtteil die Bronx genannt. Seit seinem Tod bin ich mir nicht mehr so sicher. Er hat mich so oft "kleines Reh" genannt und zärtlich "mein Fohlen". Im Blick der anderen Männer nannte er mich nachdrücklich und mit Stolz: Eine Gazelle! Er sagte: "Eine Gazelle ist anmutig, scheu und schön. Die Männer würden sich gern mit ihr schmücken, damit sie die Zierde ihres Lebens ist. Sie fangen sie mit dem Lasso ein und binden sie an. Niemand soll meine Gazelle einfangen. Meine Gazelle ist frei. Sie ist der Schmuck meines Lebens."
Er hat mir noch viel wundervollere Komplimente gemacht. Ich war ganz verzaubert. Nach so vielen Jahren Ehe grub er die Schätze aus, die man in der Jugend so gern mit Gewalt an sich reißen will. Mir war aufgefallen, daß er das Geheimnis der Frau entdeckt hatte. Er hütete dieses Geheimnis wie einen Schatz. Ich reifte neben ihm und meine Eitelkeit ließ nach. Nun sah ich in seiner Reife einen Spiegel, der mich so schön und liebenswert erscheinen ließ. Die Schönheit im Mantel der Würde. Dieser reife Mann war voller Charme. Ich wäre so gern mit ihm alt geworden! Vor dem Sternschanzenbahnhof fühle ich noch das Herz der Gazelle schlagen. Die Gazelle ist Freiwild! Die Gazelle hat Angst! Die Gazelle ist keine Gazelle mehr.
Beim Sternschanzenbahnhof, der einmal ein sternförmiger Wall gewesen ist, da möchte ich auch am liebsten abheben. Auf zu den Sternen! Den großen Absprung machen zum Heimatplaneten, dem Asteroiden B 612, heimkehren zum kleinen Prinzen. Per aspera ad astra! Den Bahnhof Sternschanze hat er noch originalgetreu für die kleine Eisenbahn im Modell nachgebaut. Er steht auf dem Schlafzimmerschrank. Zur Weihnachtszeit ließen wir ihn leuchten. Seit seinem Tode ist das Weihnachtsfest traurig. Der Bahnhof leuchtet nicht mehr. Seit seinem Tod sehe ich ein altes Gesicht im Spiegel, Schatten unter den Augen, graues Haar. Ich sehe den Schatten meiner Seele. Das Licht ist fort. Unsere Seelen waren zusammengewachsen und der Tod hat sie auseinander gerissen. Die Frequenzen unserer Gehirnwellen haben im Laufe der Jahre einen gemeinsamen Sender gefunden; nun funkt es ins Leere. Wir haben im Laufe der Jahre eine gemeinsame Sprache gefunden. Wir haben uns Stichworte gegeben, die wir über Jahre auf einen gemeinsamen Nenner gebracht haben. Manchmal war es nur ein Blick, der wie ein Geheimcode war. Im Laufe der Jahre laufen die Jahre davon. Jetzt sind sie Erinnerung. Jetzt muß ich wieder die Muttersprache lernen, das Schweigen. Das Schweigen mit ihm war schön, eine große Pause in der Musik. Jetzt ist das Schweigen drückend, eine schwere Geburtswehe.
Im Bahnhof auf der Rolltreppe spricht man mich um ein paar Groschen an. Ein junger Mann. Es geht ihm schlechter als mir. Er hat kein Dach über dem Kopf - oder schlimmer: er will keines haben. Ich gebe ihm etwas Geld. Ich fühle mich auch obdachlos. Wolfgang war meine Heimat! Dennoch muß ich nicht im Regen stehen und nicht verhungern. Ich bin dankbar für mein Dach über dem Kopf. Ich brauche dieses Dach, damit ich schreiben und malen kann. Ich möchte auch etwas beitragen dürfen, ein wenig Farbe ins Leben bringen auf dem Papier. Ein letzter Traum: Freie Künstlerin ohne Podest! Ich schreibe und male gern. Es ist eine einsame Arbeit. Die Einsamkeit ist jetzt der Antrieb zum Schreiben. Auf dem Bahnsteig sehe ich weiße Blüten vor den Gleisen und höre das Geräusch eines fahrenden Zuges hinter mir. Die Eschen leuchten grün hinter dem weißen Gitter am Bahndamm.
Es ist Mitternacht. Lauf der Zeit! Ich habe mich in die Gegenwart geschrieben. Die grünen Eschen leuchten noch, während es unaufhörlich vor meinem Fenster schneit. Da steht die weiße Venus von Milo in ihrer Muschel nackt auf der Fensterbank vor dem grünen Farn, als stünde sie in einer Schneekugel aus Glas. Ich habe ihm die Schaumgeborene auf Kreta geschenkt, weil er sie so liebte.
Wolfgangs Sonne stand im Zeichen der Venus: 13° Waage. Dieses Symbol ist in den Grabstein geschrieben. Ein Weg zur himmlischen Harmonie! In einem Horoskop steht die Sonne für den Mann. Der Mond steht für die Frau. Mein Mond steht auch im Zeichen der Venus: 13° Waage. Wir waren füreinander bestimmt.
"Im Blut von Eden wollten wir die Einheit. Mann und Frau. Wir waren eins im Blut von Eden. Der Mann in der Frau und die Frau im Mann. Was für ein Moment des Segens! "Das ist der Text eines schönen Liedes von Peter Gabriel. Wenn ich es höre, dann steigen die Tränen auf, ersticken und erfrieren im Hals, rinnen wieder herab in mein zerbrochenes Herz und das Salz der Tränen kristallisiert sich darin, der Schmerz brennt in der Musik, reißt die Wunde wieder auf. Nur die Musik spricht das Sakrale an. Ein heiliger Moment: Schmerz vereinigt sich mit Liebe! Musik ist ein Mysterium. Der Schreibende ist wie der Mond. Er reflektiert nur das Licht. Der Mond steht jetzt allein. Ein kleiner Trabant. Ich reflektiere sein strahlendes Licht. Meine Gedanken umkreisen ihn. Die Venus ist der leuchtende Morgen- und Abendstern. Erster und letzter Stern am Himmel.
Die Trauer umkreist den Friedhof. Ich verliere mich in den Details. Ich verliere mich in den Gedanken auf dem Weg zum Friedhof. Da ist eine große Sehnsucht nach Stille in mir. Die Gedanken verzehren zu viel Papier. Die Stille wohnt auf dem Friedhof. Dort gehen die Uhren anders.
"Die Zeit ist ein kontinuierliches Fortschreiten, innerhalb dessen sich alle Veränderungen vollziehen. "So steht es im Lexikon. Auf dem Friedhof verwesen die Körper. Da verwandelt sich alles in Erde. Da kehrt alles zum Ursprung zurück. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Im alten Testament wird gesagt, daß der Mensch aus Ton gemacht wurde. Dieses Wort hat eine doppelte Bedeutung: Es verbindet die Materie mit dem Klang der Musik. Wir können uns Gott im alten Testament als einen Töpfer vorstellen, der aus uns eine Vase macht. Wir werden ein Gefäß, das empfangen soll und den Klang in sich trägt. Der Lehm kehrt im Tode zur Erde zurück, der Klang pflanzt sich im Unendlichen fort.
In der Stille des Friedhofs summt der Urton. Auf dem Friedhof hängt eine Sonnenuhr. Hier wird das Licht als Zeit gemessen. Diese Uhr ist aus Stein gemacht. Diese Uhr ist nicht rund und sie hat nur einen Zeiger, der sich nicht bewegt. Ein Stab wirft den Schatten. Der Schatten wandert mit dem Lauf der Sonne. Schatten der Vergangenheit. Schatten der Gegenwart. Schatten der Zukunft. Zeitdimensionen!
"Jedes Wirkliche nimmt eine Stelle in dem objektiven Zeitverlauf ein, der an der gleichförmigen Bewegung der Himmelskörper gemessen wird." So sagt es Aristoteles. Geographische Zeit! Die alte Sonnenzeit! Auf dem Friedhof ist die Zeit noch nicht transzendent geworden. Hier dreht sich alles um die Erde! Auf dem Friedhof sind wir nicht mehr vorweg, hier müssen wir uns nicht zeitigen. Hier hat alles seine eigene Zeit: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Zeit für die Trauer und Zeit für den Übergang.
Ich fahre mit der S-Bahn zwei Stationen durch das Industriegebiet. Ich sehe aus dem Fenster und die Landschaft entflieht. Ich sehe die dunklen Klinkerhäuser an der grauen Straße. Es ist der Weg zu unserer alten Autowerkstatt. Der Automechaniker ist im Laufe der Zeit ein Freund geworden, ein echter Kumpel. Er hatte unser altes Taxi immer wieder zusammengeschweißt. Ich sehe uns da immer noch unter der Hebebühne stehen. Ich sehe noch die Pin-up-Girls an der Wand. Ich höre noch die Reisegeschichten aus Amerika. Lachend nannte der Automechaniker meinen Wolfgang immer ein Weichei, weil er ja ein Uni-Fritze war und so geschwollen reden konnte, wenn er wollte. Der Uni-Fritze schob ihm lachend die Faust unters Kinn. Zuletzt hingen da über den Autos noch kleine Galgen für den Galgenhumor. Oft haben wir das Auto in der Nacht vor die Werkstatt gestellt und sind zu Fuß zurückgegangen. Klare und kalte Wintermondnächte. Heiße Sommernächte. Der ganze Weg ist noch versponnen mit dem seidenen Faden unserer Lebensphilosophie. Es roch nach Essigfabrik und verbranntem Gummi. Man geht durch dunkle Unterführungen und die Laster rattern einem die Ohren ab. Dort steht auch die Bücherfabrik. Wir gingen an diesem Haus vorbei und sprachen über Bücher. Ich träumte von meinem eigenen Buch. Er kaufte mir an der Tankstelle eine Rose aus Marzipan, damit ich schreibe.
Der Weg zum Friedhof ist also auch nicht ohne Erinnerung. Diese Erinnerung schmerzt am meisten. Ich weiß nicht, warum. Das Taxi ist auf dem Autofriedhof. Der Abschied von diesem Wagen war schwer. Ich saß auf seinem Krankenhausbett und weinte. Ich weinte nicht um dieses Auto. Ich weinte, weil die Diagnose des Arztes mit den Worten des Werkstattmannes identisch war: Alles Schrott!
Auf dem Bahnhof Diebsteich stehen die Uhren still. Es ist dort seit Wochen immer zwölf Minuten vor Eins. "Zurückbleiben bitte ", ruft die Stimme aus dem Lautsprecher. Dieser Satz dringt immer tief in mein Ohr. Es wird mir immer ganz bewußt: Ich muß zurückbleiben! Ich tanze den Tanz der Witwen. Sie tanzen allein. Ein Song von Sting. Ich habe immer Musik im Ohr. Manchmal begleitet mich die Musik zum Friedhof. Ich nehme einen Walkman mit.
Diebsteich. Mein Grenzbahnhof! Meine Gedanken versinken im tiefen Teich der Friedhofslandschaft. Beim Ausgang das große Schild: Grabpflege. Bepflanzungen - Tannendeckungen - Einzelaufträge - Persönliche Beratung - Meisterbetrieb. Dann das Neonlicht im Unterführungstunnel. Eingang zur Unterwelt. Das Postgebäude hockt im Bauloch hinter einer langen Mauer wie in einem ausgetrockneten Flußbett. Das Pelzschloß thront in der Ferne. In dieser Landschaft begrüßt die Wüste den ewigen Winter.
Dann wieder Neonlicht im Tunnel. Diebsteichtunnel. Verschlungene Graffitis leuchten auf grauem, gnadenlosem Beton. Am Ende des Tunnels führen elf Stufen hinauf zu den Bäumen, die Blätter rauschen im Wind. Zwei Friedhofsgärtnereien stehen sich gegenüber. Dann die lange Reihe der Steinmetzbetriebe auf dem Weg. Überall unbeschriebene Grabsteine wie unbeschriebene Blätter. Sie warten auf den Tod. Steine sind geduldig. Steine verdichten die Zeit. Steine sprechen von Vergangenheit. Das Anagramm von Stein ist Einst. Läßt man den Stein zerbröckeln und die Buchstaben fallen, dann sagt er: "Stein...Sein...Sei...Ei.
Steine regen zum Denken an. Ein Stein wird zum Denkmal. Der Grabstein bewahrt das Andenken. Der Grabstein wartet auf unseren Namen. Der Tod ist uns von Geburt an versprochen. Der Tod ist ein Bräutigam. Er wartet auf uns am Ende der Zeit. Der Grabstein behält den Namen und die Lebensspanne über den Tod hinaus.
Ich höre die Steinmetze bei der Arbeit. Sie sägen den Marmor. Hinter Zäunen stechen die Stelen aus Granit vor bunten Marmorreihen ins Auge. Zwischen den Steinmetzbetrieben wirbt das alte Michelin-Männchen für den Reifenservice. Große Schilder vor den Jägerzäunen: Treppen-Kamine-Marmor-Granit. Steinmetze behandeln ihre Steine wie alte Menschen. Man darf sie nicht so schnell aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen. Steine prägen die Landschaft. Der Vater des Steins ist der Berg. Steine sind weise. Steine sind alt. Wir brauchen sie nicht mehr. Wir schieben sie ab. Die alten Menschen kommen ins Heim und das anonyme Massengrab kommt immer mehr in Mode. Die Steinmetze haben kaum noch Brot.
Die Steinmetze am Friedhofsrand sind besonders freundliche und ruhige Menschen, das ist mir aufgefallen. Ebenso die Gärtner. Ich kaufte bei einem der Steinmetze einen kleinen Marmorblock für die Grablampe. Ruhig suchte der Mann das richtige Stück für mich aus und reinigte ihn mit dem Wasserschlauch. Zigarre im Mundwinkel. Er wollte kein Geld, nur eine kleine Spende für die Kaffeekasse, da lagen ein paar Groschen auf dem Holztisch. Er sah sich nicht um, wollte nicht wissen, wie viel Geld es war, grüßte aber noch einmal und wünschte einen schönen Tag.
Die Friedhofsgärtner haben immer Zeit für ein Gespräch mit den alten, aber auch den jungen Hinterbliebenen, die immer auf den Friedhof gehen. Sie lassen sich Zeit für das Blumenbinden. Sie beraten gern und leihen kleine Harken mit Schaufel aus, warnen vor der schnell hereinbrechenden Dunkelheit im Winter und sorgen sich darum, daß man heil nach Hause findet. Die Menschen auf dem Weg zum Friedhof sind freundliche Menschen.
Eine Buche lehnt sich über den Friedhofszaun Diebsteich, als wolle sie einen Trauerschleier über den Gehweg werfen. Ein Steinmetz hat ein Schild aufgestellt. Er vertieft Bleischrift. Gegenüber dem Kleingartenverein Walzentechnik für Industriebetriebe, daneben stehen kleine Arbeiterwohnungen und Motorräder parken vor Holunderbüschen.
Im Kleingartenverein weht die Piratenflagge über den Gartenzwergen. Man hört alte Schlagermusik. Es gibt Grill-Partys an den Wochenenden. Im Kleingartenverein ranken sich die Rosen um den Dornröschenschlaf. Der Weg durch den Kleingartenverein ist verboten. Kein Durchgang für Friedhofsbesucher. Man bleibt lieber unter sich im Kegelverein. Eine kleine Schnecke kriecht mit mir auf dem Wege. Wir sind langsam. Wir tragen unser Schneckenhaus mit uns herum. Manchmal fährt ein Taxi hier vorbei. Auf diesem Wege treffen sich die Arbeiter und die Trauernden. Die Psychologen rechnen die Trauernden auch zur arbeitenden Bevölkerung: Trauerarbeit! Wir arbeiten an der Trauer. Wir sind Trauerarbeiter.
Meine Seele wälzt den Stein wie Sisyphus. Einmal traf ich an der Wegbiegung den Automechaniker. Er hatte das Autofenster heruntergekurbelt und rief mir nach: "Das Leben muß weitergehen!" Wir sahen uns traurig an. Das Leben geht weiter. Aber wie? Es geht von allein. Es muß gehen, aber es geht im Schneckentempo. Es geht in die Windungen des eigenen Schneckenhauses hinein. Ich gehe täglich diesen Weg. Ich gehe meinen Gedanken nach und ich denke an ihn. Denkt er an mich? Wo immer er sei? Ich lausche und höre, was von oben kommt.
Nur auf dem Weg zum Friedhof kommt mir die Intuition. Nur auf diesem Weg finde ich die Worte für meine Geschichten. Nur auf diesem Weg sehe ich die Bilder, die ich malen will. Eingebungen: Eine Idee jagt die andere. Eine Erinnerung entspringt aus der anderen Erinnerung. Kaleidoskopartige Hologramme der Erinnerung dehnen sich wie Spiralnebel vor dem geistigen Auge aus und versammeln und verdichten sich zu einem Bild.
Neben dem Friedhof haben sie einen Neubau hochgezogen: eine Druckerei. Am liebsten würde ich mich dort einnisten und eine Schreiberwerkstatt gründen, einen Verlag aufmachen, vervielfältigen, lernen und arbeiten und die Kunst zwischen mich und die Welt stellen. Die Arbeiter- und Künstlermaske aufsetzen, damit man die Trauer nicht mehr sieht, den Schmerz mit Arbeit und Geschäftigkeit betäuben bis zum Umfallen, bis die Kerze ausgebrannt ist. Ich wünsche mir aber auch ein kleines Haus im Garten der Stille. Dort würde ich mich von der Welt zurückziehen. Da könnte ich die Einsamkeit ertragen. Ich lasse die Träume los. Sie blähen sich auf und zerplatzen mit einem lauten Knall.
Ich muß noch eine Ampel überqueren. Hinter der Ampel steht eine riesige Uhr. Beim letzten Friedhofsgärtner wachsen Disteln neben den Zypressen hinter dem Jägerzaun. Der Inhaber hier ist ganz besonders ruhig und ganz besonders nett. An der großen Kreuzung Ecke Ruhrstraße gibt es noch einen Imbiß mit dem Namen Futterexpress. Schwere Laster rollen über die große Brücke. Vor dem Tor steht ein brauner Findling mit der Aufschrift: Bornkamp. Dieses Wort bedeutet einen Ruheplatz an der Quelle. Hier wollte Wolfgang begraben sein. Hier hat er sich in der grünen Stille erfrischt, wenn es ihm im Taxi zu heiß wurde. Er hat mir von diesem schönen Ort erzählt. Er wollte mir diesen Friedhof immer zeigen, aber der Zufall wollte es nicht. Es kam immer etwas dazwischen. Jetzt muß ich diesen Weg allein gehen. Hier ruht die Quelle meines Lebens. Hier ruht meine Liebe. Hier schließt sich der Kreis.
Auf dem Parkplatz ist ein großes schwarzes Kreuz verankert. Ein kleiner Pfad führt durch Rhododendronbüsche. Majestätische Kiefern, Lebensbäume und Zypressen markieren die Wege. In der Ferne dampft ein Schornstein. Braungraue Rauchfahnen. Es duftet nach Rosen und es riecht nach Industrie. Der Himmel über dem Friedhof ist niemals nur blau. Der Sommerabendhimmel legt sich wie Blattgold über das Grün. Silber und violett zieht sich durch Wolkenfäden im blassen Mondlicht. Der Regenbogen umspannt den ganzen Ort und zeigt sich hier in seiner ganzen Pracht. Rosa Wolkenschiffe durchleuchten das Grau. Der Himmel hat hier jeden Tag seine bunte Farbe.
Die Ruhe des Friedhofs läßt den Blick nach oben wandern. Das Grün der Lebensbäume scheint moosig und satt. Teerosen erblühen auf Gräbern und vor der Kapelle. Über der Tür der Friedhofsverwaltung hängt eine große Glocke. Bänke hocken im Mauerversteck. Harken und Gießkannen hängen an einer kleinen Mauer. Gegenüber erscheinen die Waschräume so karg wie im Kloster. Ein kleiner Holzkasten enthält kleine Zettel mit Worten des Glaubens zum Trost.
Auf dem Friedhof wohnt der Pastor. In der Dunkelheit brennt in seiner Wohnung ein warmes Licht. Die Gärtner tragen lange Gummistiefel und wachen über die Toten und die Trauernden. Auf den Friedhofswegen stehen die Brunnen. Im Sommer schwimmen dunkelgrüne Pflanzenfäden wie Inseln darin. Pfauenaugen und Zitronenfalter kleben an der violetten Blütenpracht des Schmetterlingsbaums. Silberweiß und schillernd grün leuchtet die Birkenallee. Dort liegen die alten Grabsteine in Form eines Buches oder eines Kreuzes, von Rosen umrankt. Da sitzt eine zarte Frau mit einem Schleier, der schon Grünspan angesetzt hat. Daneben die helle Gestalt einer Liegenden, ihre Konturen zerfließen im Gewand.
Die Konturen zerfließen im Tode. Wolfgangs Leiche war schön. In der Nacht war sie von Licht umgeben. Ich habe ihn noch einmal nach Hause geholt und in seinem Arbeitszimmer aufbahren lassen. Das hatte ich ihm versprochen. Es ist der Raum, in dem ich jetzt schreibe. Ich schmückte den Raum mit Blumen und hielt in der Nacht bei Kerzenlicht die Totenwache.
Alle Freunde haben sich hier noch einmal von ihm verabschiedet. Ein großes Blumen-Mandala lag zu seinen Füßen. Die Blüten schwammen in einer großen Schüssel aus Glas und bildeten einen großen Kreis. Am Ende haben wir das Wasser mit den Händen in Bewegung gebracht und das Mandala war aufgelöst.
Wir sahen die leere Hülle seines Körpers, aber wir spürten die Energie der Liebe, diese wunderbare Aura, die den Körper umgab. Die Freunde waren mir dankbar für diesen letzten Blick und die Zeit für den Abschied in der vertrauten Umgebung. Bevor der Sarg für immer geschlossen wurde, legte ich einen Rosenkranz und eine Rosenblüte in Wolfgangs Hand.
Diese Aufbahrung hat Papierkrieg gekostet. Die Menschen haben Angst vor Särgen in Treppenhäusern. Das hat mir der Bestattungsunternehmer erzählt. Die Menschen wollen den Tod verbannen. Meine Mutter erzählte mir, daß sie mir sehr dankbar dafür war, daß sie ihren Schwiegersohn noch einmal sehen durfte. Meine Mutter war sieben Jahre alt, als ihr Vater starb. Sie hat den toten Vater nie gesehen. Lange Zeit hatte sie geglaubt, daß der Vater nur verschwunden war, daß es den Tod nicht gibt. Sie hatte geglaubt, der Vater sei vielleicht in ein fernes Land ausgewandert. Jetzt kann sie den Tod glauben. Der Bestattungsunternehmer hat mir den Herzenswunsch erfüllt. Ausnahmeregelung!
Ich gehe zum Grab. Es ist ein Doppelgrab. Mein Name ist noch nicht in den Stein geschrieben. Einst wird er dort zu lesen sein. Der Stein ist weiß. Im Laufe der Zeit wird er sein Innerstes nach außen kehren: schwarze Adern auf leuchtendem Orange. Ein schlichtes Kreuz glänzt weiß in weiß. Das Kreuz schwebt mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Stein.
Die Muschel-Begonien auf dem Grab fächern sich auf und die Blütenblätter verwandeln sich in tropfende Tränen. Die blassen Rosen leuchten wie Diamanten. Ein Dompfaff sitzt auf einem Zweig und singt mir ein Lied. Ich lausche nach innen. Ich höre die Stimme in mir. Da jault die Steppenwölfin. Sie heult den Mond an. Sie beklagt den Verlust ihres alten Gefährten. Es heult die brennende Liebe. Es heult die Verzweiflung. Es heult die Einsamkeit und die Verlassenheit. Ich stehe an der Stätte, an der auch ich einst begraben sein will. Das Tier in uns will nicht sterben. Jede Zelle wehrt sich gegen den Tod. Ich habe den Totentanz in den Bildern von Egon Schiele gesehen.
Über dem Grabstein schwebt ein roter Fesselballon. Ich kann Wolfgang noch nicht loslassen. Wir konnten unsere Liebe nicht loslassen. Ich sehe ihn noch immer weinen, weil er mich zurücklassen muß, weil er niemals die Hochzeit seines Sohnes erleben wird. Ich sehe uns noch weinen, Arm in Arm im Krankenbett.
Während seiner Krankheit hat Wolfgang einmal hohes Fieber gehabt. Es war kurz vor Ostern. Vor dem Fenster: Donner, Blitz und Sturm, heulender Wind. Ich hatte panische Angst. Ich kühlte seinen Kopf und machte Wadenwickel. Ich sah sein totenblasses Gesicht im Widerschein des Blitzlichtgewitters. "Wirst du jetzt sterben?" weinte und schluchzte ich. Er sagte: "Ich weiß es nicht. Ich bin noch nie gestorben. Ich sehe deine großen traurigen Augen. Deine traurigen Augen sind so groß wie Fesselballons."
In dieser Nacht ist er nicht gestorben. Ich habe mich meiner Angst geschämt. Ich schämte mich für die Anhaftungen und Verhaftungen meiner herzlichen Verbindung, weil ich ihm den Abschied schwer gemacht habe.
Kurz danach gab es einen Film im Fernsehen. Dieser Film hieß "Jakobsleiter ". Der ganze Film zeigte nur den Moment des Todes. Der junge Held ringt mit Dämonen. Er durchlebt seine Verstrickungen, seine Liebe und seinen Schmerz noch einmal. Sein kleiner Sohn ist bei einem Autounfall gestorben. Ein Chiropraktiker hilft ihm durch den Schmerz. Dieser robuste Mann spricht von Meister Eckhart: "Die Dämonen der Hölle sind die Bindungen und die Verhaftungen an diese Welt. Wenn du sie losläßt, dann verwandeln sich die Dämonen in Engel, die dich die Jakobsleiter hinaufführen."
Am Ende des Films sieht man den kleinen Jungen auf den Vater warten. Er führt ihn eine Treppe hinauf und sie gehen ins Licht. Am Ende des Films sagte Wolfgang zu mir: "Dies ist mein Film. Es ist die letzte Übung. Das Loslassen ist die letzte große Übung. Das eigene Leben loslassen wie einen Fesselballon!"
Wolfgang starb an einem sonnigen Donnerstag. Es war Fronleichnam. Ich wiegte den Erstickenden in meinen Armen wie ein Kind. Ich fühlte mich hilflos, wollte ihm nur noch jeden Atemzug erleichtern. Ich schmiegte meine Wange an seine glühende Wange und spürte noch einmal das letzte Aufglühen der Liebe. Die Sonne ging unter.
Ich weinte und die Kirchenglocken begannen zu läuten, die Vögel erhoben sich in Scharen, die Hunde bellten, ein großer Sommerregen strömte hernieder. Das Wasser ergoß sich in Silberströmen, glänzend im rotgoldenen Abendsonnenlicht. Der Himmel weinte!
Der Arzt kam herein und sagte: "Danke, daß Sie es uns so leicht gemacht haben." Seine Stimme war bewegt. In den Nachbarzimmern hatte man das Sterben nicht bemerkt. Schwester Christiane hatte mit mir in den letzten Minuten seine Hand gehalten. Tränen kullerten über ihr Gesicht. Sie strich mit dem weißen Ärmel ihrer Jacke über die Wangen und sagte leise: "Mein Vater ist schon lange tot. Manchmal spricht er zu mir. Ich höre seine Stimme noch."
Sie wollte ihm die Augen schließen, aber sie wollten sich nicht schließen lassen. Diese Augen waren nicht tot. Seine Augen fixierten immer noch einen hohen Punkt an der Decke, als ob da etwas Wunderbares zu sehen sei. Seine Augen glänzten und waren voller Licht. Mein Sohn kam in das Zimmer gerannt. Er wurde blaß. Ich hielt ihn in den Armen, denn er war einer Ohnmacht nahe. Er streichelte noch einmal zärtlich seinen Vater, setzte sich dann lange Zeit mit angewinkelten Knien ans Fenster und betrachtete den Regen im Sonnenuntergang und weinte. Meine Schwiegereltern kamen und Wolfgangs Vater öffnete das Fenster für den freien Flug der Seele. Wir saßen noch lange bei ihm, bis es dunkel geworden und sein Körper kalt war, bis ich wußte, daß er nie wieder aufwachen würde. Die Liebe fesselt mit einem unsichtbaren Band. Sie ist jetzt die Tinte auf meinem Papier. Ich lasse die Buchstaben los. Der Fesselballon entschwindet und ich sehe die Welt von oben.
Ich sehe die Menschen in ihrem Verhältnis zum Tod. In Paris liegt die Weltliteratur begraben. Da liegen die Dichter unter großen Engeln aus Stein. Der Friedhof von Paris ist eine Pilgerstätte für Geistesritter. Da liegt Jim Morrison neben Marcel Proust. Kurz vor seinem Tod hat Jim Morrison den Proust besucht. Wir sind alle auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bevor wir im großen Schlaf versinken, wollen wir alle noch einmal den Schrei des Schmetterlings hören. Auf dem Friedhof von Paris lebt die Poesie. Wohnstatt der schönen Worte.
In Wien ist der Tod ein zentrales Thema. Der Friedhof steht im Mittelpunkt. Dort lebt die Wiener Wehmut. "Es lebe der Zentralfriedhof und alle seine Toten, der Eintritt ist für Lebende ganz ausnahmslos verboten. "Über diese "Schrammel" von Wolfgang Ambros haben wir immer gelacht. Die Wiener haben Humor. Auf den Tod trinkt man ein Glas Wein.
Man sagt, die Mexikaner hätten ein zärtliches Verhältnis zum Tod. Sie kennen ihn gar nicht. Sie nennen den Tod Judaspuppe. Judas hat sich am Baum erhängt, weil er nicht daran glaubte, daß Gott ihm vergeben könne. Der Tod ist nur die Hölle der Verzweiflung. Die Mexikaner feiern das Leben auf Gräbern. Sie essen Totenschädel aus Zuckerwerk und lassen Knallkörper fliegen.
Die Juden lassen ihre Toten ganz in Ruhe. Sie betreten die Friedhöfe nur zum Gebet und überlassen die Gräber der Zeit. Niemand darf die Ruhe der Toten stören.
In Irland überlistet ein Heer von Schreibern den Tod. In einem Artikel las ich: "Die Leute schreiben, weil sie nicht einfach sang- und klanglos verdunsten wollen. Das Wort ist Schall. Es braucht Schrift. Jedes in Stein gemeißelte Zeichen ist Gottesdienst. "So überwinden die Iren den Tod im Geiste. Ich schreibe nur für die Haltbarkeitsdauer des Papiers. Ich schreibe, damit die Zeit sinnvoll vergeht. Ich schreibe doch nur aus Liebe!
Dienstag. Es ist spät geworden. Ich schreibe mich wieder durch die Mitte der Nacht. Aus dem Zimmer meines Sohnes plätschert leise Musik aus dem Techno-Gewässer. Neben mir liegt ein buntes Blatt Comic-Briefpapier. Ein kleiner König schreibt mit seiner viel zu großen Purpurpudelmützenkrone mit dem Federkiel. Neben ihm steht das offene Tintenfaß. Die dumme Krone rutscht ihm immer vom Kopf.
Die Freundin meines Sohnes hat mir etwas abgeschrieben. Ich habe ihr gesagt, daß ich mir Gedanken über die Zeit mache. Sie fand in ihrer neuen Lektüre Gedanken über die Zeit. Ihre neue Lektüre ist für mich eine ganz alte Lektüre. Sie liest Hermann Hesse. Sie liest Siddharta. Auf dem Zettel steht: "Er sah: dies Wasser lief und lief, immerzu lief es, und war doch immer da, war immer und allzeit dasselbe und doch jeden Augenblick neu! O wer dies faßte, dies verstünde! Oh, war denn nicht alles Leiden Zeit, war nicht alles Sichquälen und Sichfürchten Zeit, war nicht alles Schwere, alles Feindliche in der Welt weg und überwunden, sobald man die Zeit überwunden hatte, sobald man die Zeit wegdenken konnte? "
Ich denke an den Friedhof Bornkamp, auf dem Wolfgang jetzt begraben liegt. Ich denke an ein Gedicht von Hermann Hesse: Stufen! Dieses Gedicht hat uns immer begleitet. Ich erinnere mich an die letzten Zeilen: "...Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!"
Ich nehme täglich Abschied. Wie nimmt man Abschied? Unsere Freundin Maren lebt auf Gomera. Sie hat mir erzählt, daß sie sich mit den Walen des Meeres angefreundet hat. Am Tage ihrer Abreise fiel der Abschied von diesen Freunden schwer. "Sagt mir, wie man Abschied nimmt", dachte sie bei sich. Sie stand am Meer und das Rudel schwamm ein Stück voraus, drehte sich um, schwamm weiter, drehte sich noch einmal zum Gruße, schwamm weiter, hielt wieder inne, schwamm weiter, bis das letzte Tier am Horizont verschwunden war. So hat sie gelernt, wie man Abschied nimmt: Stück für Stück.
So verlasse ich meine Gedenkstätte: Das Grab. So verlasse ich täglich mein Haus. So lasse ich meinen Sohn ins Leben ziehen. So verlasse ich irgendwann diesen Planeten. Ich kann nur noch eines geben: Das Wissen um die Liebe. Das Wissen um das Leben? Ich lerne, wie man Abschied nimmt. Das Leben fordert die Wandlung. Der Garten Eden liegt im Zeitlosen. Dort ist auch die Quelle der Liebe zu finden. Wenn unser Geist zur Ruhe kommt, dann können wir uns mit dem Zeitlosen verbinden.