Das Mandala
Unser persischer Freund bat mich, ihm ein Bild zu malen. Irgendein Bild. Er kopiert die Bilder immer wieder um, bis sie sich in surrealistische Muster verwandeln und verfremden. Sie werden zerschnitten und mit glänzenden Hologrammfolien zu neuen Collagen verarbeitet. Manchmal läßt er Teile des ursprünglichen Bildes durchscheinen. Drachen und Fabelwesen winden sich durch alle Mythen der Welt, leuchten unter Punktstrahlern auf, von persischen Ornamenten und Paisley-Mustern durchwebt.
Also malte ich. Es sollte ein schönes Bild werden. Ich legte mich auf mein großes einsames Bett, tauchte in das strahlende Gelb der Decke, tauchte in meine Sehnsucht, tauchte in die Vorstellung von meinem Paradies. Der Bleistift machte das Bild rund. Absichtslos. Es entstand ein himmlisches Wesen, das sich selbst ins Auge blickt. Das war ich und nicht ich, zusammengewachsen in der Krone der Schöpfung, das war er in mir und ich in ihm, zusammenhaltend den Baum des Lebens im Schoß der Liebe. Über der Apokalypse schwebend, im luftigen Raum, wachsen die Rosen aus einem Stamm. Die Welt teilt sich und kehrt zur Einheit zurück. Ich und Du blicken sich ins Auge. Moment der Seelenverschmelzung. Augenblick! Ein offenes Ohr. Das Ohr ist geschmückt. Einklang!
Sich öffnen im Verschließen zum Schutz des aufkeimenden Lebens. Die Sonne nährt den Geist der Verbindlichkeit, die Flammen auf unserem Brückenhaupt sind Spender der Energie. Mehr kann ich über dieses Bild nicht sagen. Die Worte reichen nicht aus. Das Bild ist nur der dunkle Abglanz einer Idee. Ein Paradoxon. Man kann es nicht anders denken. Es ist undenkbar: Das Paradies, der Garten Eden, der Ort der Seligen, wo Einheit, Liebe und Frieden herrschen. Meine Sehnsucht: Unerreichbar!
Unsere Freundin Edda fand das Bild schön. Das war die ganze Absicht des Bildes, die einzige Motivation. Die Details und die Symbole tauchten einfach aus dem Unbewußten auf. Ich betrachte den Bleistift, während er über das Papier gleitet. Ich nehme Abstand zum Künstler in mir und lasse ihn wie ein Kind malen. Ich glaube, daß dieser Kinderkünstler ungefähr zwölf Jahre alt ist. Jugendstil! Ich lasse ihn wieder hochkommen. Ich gehe in meine eigene Schule und es entstehen die gleichen Bilder wie damals im Kunstunterricht. Da dürfen die Gedanken abschweifen und der Geist sich sammeln. Der Kritiker muß in der Ecke stehen und spielt keine Rolle. Die Zensur wird nicht zugelassen. Ich lasse sie nörgeln und brabbeln, höre diese inneren Stimmen in mir wie das Rauschen eines Baches, dann wird es gut, weil es ursprünglich ist.
"Dieses Bild ist dein Mandala", rief meine Freundin aus. Es stimmte. Allein wäre ich niemals auf diesen Gedanken gekommen. Was ist ein Mandala? Eine Landkarte für die eigene Seele, Orientierungshilfe auf dem eigenen Weg, Ausgleich und Harmonie für die Wechselfälle des Lebens. Ein persönliches Glaubensbekenntnis, auch für Atheisten. Es ist das Erkennen der inneren Welt. Das Mandala hat ein Ziel. Das Ziel ist eine Situation, die man erreichen will, um wieder ganz von vorn anfangen zu können. Das Mandala bildet einen Kreis, der sich an den nächsten schließt, es ist nur ein kleiner Dreh in der Spirale. Der Kreis hat keinen Anfang und kein Ende. In unserem Denken gibt es die erdachten Stufen. Das Mandala symbolisiert immer die höhere Stufe, die man noch nicht erreicht hat. Das Mandala ist eine Möglichkeit.
Das Mandala spricht uns in allen Religionen der Welt an. Seine Sprache ist das Symbol. Jeder Mensch hat sein eigenes und geheimes Mandala, ein höheres Bild von sich selbst, er muß es nur malen. Der Prozeß der Selbstfindung ist niemals ganz abgeschlossen, sonst verschließen wir uns vor dem Leben. Deshalb wird dieses Bild nur der Anfang für ein Ende sein. Ein vorläufiger Abschluß. Die eine Tür geht zu, damit sich die nächste öffnet für den neuen Einblick in das Leben. Das Mandala ist ein individueller Weg im Kollektiven. C.G. Jung hat es entdeckt. Bei ihm ist das Mandala eine Seelenarbeit. Wie setzen sich die Symbole der Welt in mir zusammen? Wo sind meine Wurzeln? Was sind meine Erfahrungen? Wo stehe ich jetzt? Diese Fragen kann das Mandala beantworten.
Diese Fragen stelle ich mir immer noch, weil mein kleiner Prinz, mein geliebter Mann, immer mit der "Traumdeutung" in der Jeanstasche mit mir durchs Leben gelaufen ist. Er hat meinen Wissensdurst so oft gestillt und doch immer wieder meine Neugier geweckt.
Sein Name war Wolfgang. Das ist ein häufiger Name der Nachkriegsgeneration. Es ist ein germanischer Name und er bedeutet, daß einer wie ein Wolf kämpft. Mein Wolfgang ist nach Wolfgang Amadeus Mozart benannt worden. Die ganze Schönheit dieser Musik drückte sich in seiner Gestalt und in seinem Wesen aus. Sein Vater und auch der Großvater hatten Musik studiert. Er war mein Amadeus, die Liebe zu Gott, von Gott geliebt.
Im Krankenhaus malte ich neben seinem Krankenbett. Ich malte den Weg des Abschieds. Ich malte mich schon einmal in das Paradies. Es sieht immer anders aus. Ich malte mich durch den Druck der ablaufenden Zeit. Ich malte mich durch die eigene Gebetsmühle. Ich malte mich durch meine Tränen. Am Ende wurde das Bild wieder rund. Das Mandala zeigte einen weißen Mond im lila Lotuswolkenlicht. Wolfgang sprach mit mir über jedes Bild und half mir damit aus dem Stau der Gefühle. Ich malte viele Bilder und er arbeitete die ganze Zeit nur an einem einzigen Bild. Er malte drei aufblühende Rosen, die ich ihm immer an sein Bett stellte. Drei langstielige und edle Rosen, die er im zartrosa Pastell in ihrem Aufblühen und sich Entwickeln festgehalten hat. Man sieht die Adern und die kleinen Zacken auf jedem grünen Blatt. Die mittlere Rose entfaltet und entblättert sich zwischen den noch verschlossenen Schwestern. Diese Verschlossenheit macht sie so ästhetisch. Auf der Rückseite des Bildes hat er zart mit dem Bleistift geschrieben: "Meiner Iris. Ein Stück Unvergänglichkeit des Vergänglichen. Stellvertretend für all die Blumen, die ich habe schenken wollen. "
Dieses Bild hängt jetzt über dem Monitor meines Computers und inspiriert mich zur Entfaltung meiner schöpferischen Kraft. Die Rosen sagen: "Hab Vertrauen. Alles entwickelt sich von selbst. Öffne dich. Laß den Duft verströmen." Großes Mandala! Nie verblühende Liebe!
Er hat mir zu jedem Geburtstag und zu jedem Hochzeitstag Blumen geschenkt. Manchmal kam er mit einer langstieligen dunkelroten Rose nach Hause, weil er einfach nur wieder einmal verliebt in mich war und ich in ihn. Ich erinnere mich noch an seinen ersten Besuch im Haus meiner Eltern. Er stand mit einem Strauß wilder Rosen vor der Tür, die er für mich gepflückt hatte. Es waren die schönsten Rosen, die ich jemals gesehen habe. Die ganze Wohnung duftete. Spirale der Liebe! So viele Blumen im Paradies meiner Erinnerung. Verzerrt und verklärt die Erinnerung? Wird alles zu schön? Wer kann schon Dichtung und Wahrheit auseinander halten? Warum kein Ideal erschaffen, das Mandala? Warum soll die Erinnerung mich trügen?
Manchmal fragen mich die Leute, ob ich mit meinen Erinnerungen Neid erwecken will. Das liegt mir ganz fern. Warum sollte ich das tun? Ich habe alles verloren. Ich bin wirklich nicht zu beneiden. Ich will nur Mut zur Liebe machen. Ich will, daß die Menschen so glücklich werden, wie ich es gewesen bin. Warum nicht das Paradies an die Wand malen, damit es sich verwirklicht? Ich gehöre zum Club der Utopisten. Wir arbeiten an Utopia, obwohl wir wissen, daß es Utopia niemals geben wird. Wir arbeiten am Paradies. Leonardo da Vinci hat es auch getan. Er muß es gesehen haben. Er malte eine zarte und paradiesische Landschaft um die heilige Anna Selbdritt. Die heilige Anna beugt sich über die Jungfrau und das heilige Kind, es greift nach dem Lamm. Sie sieht aus wie mein Wolfgang, als hätte Leonardo ihn in eine Frau verwandelt. Man muß sich dieses Gesicht nur männlicher und markanter vorstellen, die Kleider wegdenken, dann sieht man ihn, sein Lächeln, schöner als das Lächeln der Mona Lisa. Leonardo da Vinci hat das Bild zwischen den Jahren 1508 und 1510 gemalt. Hat er in die Zukunft gesehen? Hat er nur sich selbst gemalt? War er in sein Modell verliebt? Niemand weiß es.
Sigmund Freud sah in diesem Bild eine zärtliche Erinnerung an die Mütter. Für mich hat er meinen Wolfgang im Paradies gesehen. Das Bild hängt im Louvre und wird wohl gut beleuchtet. Man kann es im grauen Alltag in den Läden auf einer Postkarte oder in Kunstbänden betrachten. Zwischen allen Ängsten und Sorgen und Kämpfen unseres Lebens, da scheint das Licht ganz hell auf. In meiner Einsamkeit und der Verzweiflung entdecke ich dieses Licht wie das Licht eines Leuchtturmes in der Finsternis. Dieses Licht der Liebe treibt mich noch an. Deshalb ist Wolfgang niemals wirklich gestorben, weil er mein Herzschlag ist. Manchmal denke ich, daß ich untergehe, so allein, doch am Grunde des Meeres wächst der Lebensbaum aus meiner Mitte, seine große Liebe, die jetzt meine Erfahrung ist. Das Männliche wächst aus dem Weiblichen.
Erinnerungen haften am Seelenbild. Worte eines Liedes von Bob Dylan, das André Heller gesungen hat. Es war Wolfgangs Geburtstagsgeschenk an mich, ein Lied, dessen Worte er mir ans Herz gelegt hat: "Dich soll es geben, so lange es die Welt gibt und die Welt soll es immer geben. Bleibe immer jung. Wachse in den Himmel. Brenne vor Begeisterung. Du sollst verzeihen. Habe Vertrauen. Sprich die Wahrheit. Höre niemals auf zu lernen. Arbeite mit der Phantasie. Du sollst vor Liebe brennen. Für immer jung, dann brauchst du keine Versicherung. "Diese Worte sind immer noch mein Ideal. Sie gehören als Lied zum Mandala.
Er hat mir auch ein Häuschen aus Streichhölzern hinterlassen, das er selbst gebastelt hat. Seine Hände waren schon fast gelähmt, dennoch ist ihm diese Feinarbeit großartig gelungen. Dieses Haus ist ein kleines Künstlerhaus. An der Giebelwand steht in grüner Schrift, als Werbung getarnt: "Knock On Heavens Door ". Ich klopfe an die Himmelspforte. Es öffnet sich die Tür zum Paradies. Wie soll ich davon berichten? Ich habe eine Erfahrung vom Paradies. War es eine Sekunde oder verweilte ich länger darin? Die Zeit spielt keine Rolle. Die Erfahrung zählt. Ich kann das Bild nicht beschreiben. Ich kann nur umschreiben. Ich umtanze das Bild der Entstehung mit meinen Geschichten. Ich verlasse mich auf die freie Assoziation.
Es ist Montag, wieder Mitternacht. Es ist ganz still im Haus. Mein Sohn liegt mit einer Erkältung im Bett. Der Computer summt. Im Fernsehen läuft gleich eine Sendung über Mystik und Kunst im Himalaja. Da werde ich die großen Mandalas sehen. Morgen betrachte ich sie vielleicht in einem Kirchenfenster oder im Bild eines unbekannten Malers. Wer weiß, wohin die Zeit mich führt?
Heute ist die Waschmaschine übergelaufen und ich habe ruhig das Wasser aufgewischt. Drei schmutzige Eimer voll. Der Tag ist gelaufen. Die Zeit ist gelaufen. Jeder Augenblick ist schon Erinnerung. Die Zeit ist in mir und ich bin in der Zeit. Die Zeit hält mich gefangen. Der Film fängt an. Morgen schon sind es Bilder der Erinnerung. Ich gleite wie André Hellers Mikado durch die Zeit, bis ich sagen kann: Ich weiß.
Sabine schrieb mir, daß die Zeit in ihrer Essenz Energie sei, da es in Wahrheit keine Zeit gibt. Das ist ein kluger Gedanke. Wir sagen auch: Zeit ist Geld. Geld ist ein Symbol für die Energie der Arbeitskraft. Das Leben ist ein Energiepotential. Wie nutze ich diese Energie? Ich schreibe. Ich male. Ich gehe täglich zum Friedhof. Ich putze und koche. Ich erinnere mich. Die Yogis in Indien nennen diese Lebenskraft Atman oder Kundalini. Sigmund Freud nannte sie Libido. Wolfgang hat mir diesen Begriff in einem prägnanten Satz erklärt: "Die Libido ist eine Kraft, die sich in der Sexualität am stärksten ausdrückt." Libido heißt einfach nur Liebe oder Verlangen. So steht es im psychologischen Wörterbuch.
Er hat mir so viele Bücher und Schriften zur Psychologie hinterlassen. Er hat mir beigebracht, daß man sich mit Büchern schlau machen kann, das Wissen erweitern. Jetzt brauche ich diese Bücher für seinen Nachruf. Er wollte, daß ich seinen Nachruf schreibe, weil ich ihn so gut gekannt habe, weil er meine Poesie liebte. Bei seiner Beerdigung bin ich durchgedreht. Ich konnte es nicht mehr. Jetzt schreibe ich seinen Nachruf. Ich will mein Versprechen einhalten.
Mein Nachruf ist Trauerarbeit für Trauernde, aber auch Erinnerung an das gelebte Leben und die Liebe. Erinnerungen an die Psychologie. Ich will trösten, weil er mich immer getröstet hat. Alle Trauernden sollen wissen, daß ich die Not mit ihnen teile. Ich denke ihre geheimen Gedanken und schreibe sie auf. Ich denke an alle ergrauten Romeos und Julias, die nicht zum Messer für den Selbstmord aus Verzweiflung gegriffen haben, weil sich das in unserem Alter nicht mehr schickt und weil es nur neues Leid erschafft. Ich denke auch an die Jungen, die etwas vom Leben wissen wollen. Ich denke an die ganz alten Menschen, die einfach gern Geschichten hören. Ich denke an das Durchhalten, an die helfende Hand, weil Wolfgang Seelenkundler war, ein weites Gebiet und ewiges Neuland.
Ich will ihm als Laie nachforschen. Ich habe schon immer das Abenteuer gesucht. Ich suche nach Engelsspuren im Schnee. Es wird ein langer Nachruf. Ich rufe ihm nach. Ich rufe noch einmal seinen Namen in die Welt. Ich will ihn unsterblich machen, damit sein Geist weiterlebt. Das klingt pathetisch. Ich weiß. Lassen wir diesen Begriff doch nicht aussterben. Pathos ist feierlich. Es ist das ganz große Gefühl. Das fehlt uns doch. Gute Poesie lebt immer noch davon, wenn sie lebendig ist. Man wirft mir dieses Wort manchmal vor die Füße und ich hebe es auf und sage: "Rettet nicht nur die aussterbenden Tiere und Wälder, rettet auch das Wort, wenn es noch einen Sinn macht!" Wolfgang stand da hinter mir. Er studierte Tiefenpsychologie. Die Sprache war sein Handwerkszeug. Er ließ sich auch gern als "Seelenklempner" bezeichnen, weil das zum Denken Freuds ganz gut paßt, zum psychischen Apparat und dem ganzen Positivismus jener Zeit. Dennoch hat er sich nicht daran festgeklammert. Er suchte seinen eigenen Weg.
Sein Leben war unvollendet. Wolfgang ist nur vierundvierzig Jahre alt geworden. Deshalb haben die Musiker auf seiner Beerdigung das Requiem von Mozart gespielt, weil dieses Musikstück so ergreifend, aber auch unvollendet ist. Mozart ist auch sehr jung gestorben und konnte das Requiem nicht mehr beenden. Mitten aus dem Leben herausgerissen!
Das Leben ist immer nur ein Fragment, eine kleine Insel, die auf dem unendlichen Ozean der Zeit schwimmt. Wir wollen das Leben. Wir leben alle nach dem Lustprinzip. Wir wollen die Unlust vermeiden. Die Wünsche treiben uns an. Ein Wunsch jagt den nächsten. Wir sind niemals zufrieden. Nicht wirklich. Wir leben nicht wirklich in der Gegenwart, denn wir jagen Zukunft und wir schwelgen in der Vergangenheit. Wir leben in der Hölle der ewigen Wunscherfüllung.
Der Wille zum Leben ist blind, das sagt Schopenhauer. Er will sich durch uns selbst erforschen. Wir müssen ihn verneinen, dann hangeln wir uns in die Welt der Vorstellung. Mit meinem Bild habe ich die Welt neu erschaffen. Ich war in der Welt der Vorstellung. Ich bin abgehoben und habe mich zur Ruhe gebracht. Das ist die Künstlerneurose. Freud hat gesagt, daß eine Welt ohne Neurosen todlangweilig ist.
Die ständige Entrückung kann aber auch in den Wahnsinn führen. Tibetische Tantriker sagen, daß der Wahnsinn die letzte Sackgasse vor dem Tor der Erleuchtung ist. Der Weg nach Shamballa ist weit. Er dreht sich im Kreis. Deshalb sägt Peter Handke die Bäume in seinem Garten. Deshalb fege ich das Treppenhaus. Der Geist muß sich erden. Der Wille will auch gelebt werden und braucht die körperliche Aktion. Das Leben ist ein Balanceakt. Ich muß mein Bild mit Abstand betrachten.
Der Wunsch liegt in der Sexualität begraben. Sie wird verdrängt. Sie lebt jetzt im Kopf. Witwen leben wieder unberührt. Ich lebe im Moment wie eine Nonne. Es gibt keinen Ersatz für seine sanften Hände. Wir waren uns ein eingespieltes Musikinstrument. Wir waren uns ein Seelenkörper. Diese Musik wird es nie mehr geben. Diese Musik lebt nur noch in der Musik. Erinnerung an die Einheit. Erinnerung an das Paradies.
Eine Freundin unseres persischen Freundes brachte mir ein Buch. Als ich das Mandala gemalt hatte, las ich darin. Ich fand eine Passage in einem Aufsatz von Karlfried Graf v. Dürckheim, der ausdrückt, was dieses Bild sagen will:
"Aber dann gibt es den seltenen Fall, daß zwei Menschen einander begegnen in einer Weise, in der sie wirklich einander personal erkennen und fühlen, sich Auge in Auge wahrnehmen, ohne auszuweichen und etwas auszuschließen, zueinander hinfühlen, ganz ohne Rest als Ich und Du - im tiefsten Sinne des Wortes "Du". Sie fühlen sich dann eins in ihrem Getrenntsein und auch verbunden in ihrem Leiden am Getrenntsein, und fühlen sich zugleich eins im Glück, in dem, was die Trennung übergreift und aufhebt. Sie fühlen sich miteinander eins und einander zugesellt und verbunden im Schicksal des Menschseins. So sind sie einander geöffnet in der Wahrheit bis zum Grund. Erst aus dieser Wahrheit, in der Einheit von Schicksalsleib und Wesen, wächst jener Gipfel menschlichen Daseins hervor, auf dem sich zwei in ungeahnter Tiefe und in allumfassender Weite begegnen, wirklich als Ich und Du, wirklich als zwei Personen in einem übergeordneten Raum. Begegnung dieser Art ist selten. Sie kann entscheidend sein auf dem inneren Weg, als erschütternder Anruf, als Quelle nie endender Verwandlung und als Erfüllung des dialogisch gebauten menschlichen Seins. "
Auch in der körperlichen Vereinigung kann die Welt aufgehoben werden und die Zeit steht dann still. Wenn wir den anderen ganz in uns aufnehmen, dann wachsen wir zusammen und sind eins mit Gott. Es gibt für den Bruchteil einer Sekunde in der Ewigkeit kein oben und kein unten mehr, weder schwer noch leicht, weder dunkel noch hell, nur ein Gefühl des Getragenseins, ein Schweben in der Geborgenheit, ein Loslassen jedes Gedankens, ein Baden in Glückseligkeit, da sind wir dann eine Note in der Musik. Ich und Du sind das Paradies.
Mittwoch. Es gibt keine Uhr in meinem Arbeitszimmer. Die Zeit ist schon wieder zu weit vorgerückt. Ich schrieb einen langen Brief, trank einen Kaffee im Wohnzimmer, ein Blick auf die Uhr: 23.13 Uhr. Jetzt sitze ich wieder an meinem Text. Dieser Ort unter meinem Rosenbild wird zum Ort einer Schreibmeditation. Lange sitze ich hier wie ein Zen-Buddhist und sitze und beobachte meine Gedanken, die als Buchstaben über den Bildschirm flackern. Mein Computer macht jetzt Musik. Mein Sohn hat mir eine kleine Musikanlage eingebaut. Ein Weihnachtsgeschenk. Er will, daß ich schreibe. Er will seine Begeisterung für den Computer mit mir teilen. Er will einen Sinn in meinem Leben. Ich brauche diese Sinnfindung. Ich bin dankbar, daß er einen Sinn in meinem Schreiben sieht. Ich bin dankbar für jeden Leser. Ich brauche und suche wieder den Sinn. Meine fünf Sinne sind mir abhanden gekommen, als Wolfgang starb, denn da hatte ich für nichts mehr einen Sinn, da klaffte nur ein schwarzes Loch, die große Depression.
Die Musik ist jetzt mein einziger Zeitsinn. Die Musik ist ein Durchmessen der Zeit mit Taktgefühl. Musik ist gehörte Zeit. Mitschwingen. Ich höre wieder einmal die Doors! Ich weiß nicht, warum ich im Moment so gern Jim Morrison höre. Er hat mir eine Tür aufgemacht. Er läßt mich wieder brennen. Vielleicht ist es die poetische Art, wie er mit dem Tod umgeht: "Der Tod macht Engel aus uns allen und gibt uns Flügel, wo wir einst Schultern hatten, glatt wie Rabenkrallen. "Vielleicht machen sie da oben im Paradies zusammen Musik. Muß ja nicht nur Harfe sein.
Ich bin wieder abgeschweift. Die Musik ist eine große Verbindung. Mein Sohn sitzt oft an seinem Computer und er hat sich ein kleines Keyboard angestöpselt. Ich höre manchmal einen tiefen Baß zu mir herüberwehen. Die Musik kommt immer näher. Wolfgang war so musikalisch. Er kam aus einer musikalischen Familie und spielte in seiner Jugend Gitarre. Wir haben oft zusammen gesungen. Wir sangen immer den alten Song: "King Of The Road ". Es gab nichts schöneres, als mit ihm in aller Stille und in der freien Natur zu singen. Es machte mich glücklich. Er hatte eine wunderschöne Stimme und er konnte die schönsten Lieder erfinden. Niemand wußte das. Er sang sie nur für mich. Schade, daß niemand sie gehört hat. Er träumte immer von einem Klavier. Es fehlte immer der Raum dafür, dann wieder das Geld, und oft waren die Klaviere zu alt und verstimmt. Immer, wenn er einen reinen Ton anstimmte, dann konnte ich mitsingen. Von allein finde ich ihn nicht und es fehlt mir der Mut. Er hat mich zum Singen gebracht.
Ich vermisse es so sehr, mit ihm zu singen. Ich habe oft Angst, daß ich den Klang seiner Stimme vergesse. Im Traum kann ich sie noch deutlich hören, da ist sie unvergeßlich. Es gab ein Tonband mit seiner Stimme. Er hatte einen Vortrag über Streß darauf gesprochen. Er warf das Tonband fort, weil in seiner Stimme der Streß zu hören war. Er wäre bestimmt ein guter Musiker geworden, aber die Psychologie, die Seele der Menschen, lag ihm mehr am Herzen.
Ich muß an eine Frau denken, die einige Sitze von mir entfernt gestern in der S-Bahn saß. Ich war auf dem Weg zum Friedhof. Sie war wohl zehn Jahre älter als ich und sie unterhielt sich mit ihrer Freundin. Es wurde schon dunkel und es war ganz still im Zug. Ich hörte das Gespräch mit an. Sie sagte: "Seitdem mein Mann tot ist, da muß ich immer wieder zurück in die Wohnung und nachgucken, ob ich wirklich die Wohnung abgeschlossen habe. Immer und immer wieder. Ich weiß nicht, wie oft ich abschließen muß. Die Wohnung scheint mir immer so leer, wenn ich nach Hause komme. Jetzt habe ich gelesen, daß dies eine psychische Krankheit ist. Ich bin so allein. Ich vergesse, wann ich Besuch bekomme. Ich kann mir nichts merken." Die Freundin antwortete: "Kein Wunder, daß du mit den Nerven fertig bist. Das gibt sich schon. Nach allem, was passiert ist."
Ich konnte diese Frau so gut verstehen. Ich kenne dieses Gefühl, in die ausgestorbene Wohnung zu gehen. Diese schreckliche Leere. Ich mußte an alles denken, was er mir in all den Jahren beigebracht hatte. Manchmal lese ich noch in seinem Ordner die Texte über seine Gedanken zur Psychoanalyse, alles was sich aus der Traumdeutung entwickelt hat. Er hat mir den Freud Schritt für Schritt ganz nah gebracht. Ich lese die Briefwechsel mit seinem Dozenten. Ich lese die Gedanken zu seinem Versuchsaufbau für die Doktorarbeit, die er nicht mehr schreiben konnte. In seiner Diplomarbeit hat er die Verdrängung wissenschaftlich nachgewiesen. Dafür hat er eine Eins bekommen und einen Brief vom Dozenten, voller Dank und Lob. In seiner Doktorarbeit wollte er den Sitz der Verdrängung im Gehirn lokalisieren. Der Professor hat über seine Hypothese gelacht und sagte, damit könne er in einer Talkshow auftreten. Er sagte: "Ich sehe schon das kleine Männchen auf der Brücke des Gehirns die Flugzeuge einwinken."
Psychologen haben Humor. Psychologen können knallhart sein. Wir haben über dieses Bild herzlich gelacht. Als Wolfgang seine Gedanken dem Professor näher erklärt hat, wurde das Interesse schon größer. Er hat viele Stunden frei vorgetragen und erläutert. Sein Dozent war danach in Schweiß gebadet. Dieser Dozent hat mindestens fünf Doktorentitel, aber sprich ihn bloß nie mit "Herr Doktor" an, sonst ist er beleidigt! Psychologen sind Leute wie du und ich. Sie wollen sich nicht aus der Masse heben. Sie tragen gerne Pullover, mögen keine Konventionen und nennen sich beim Vornamen.
Am Ende gab der Professor seinen Segen für die Doktorarbeit. Die Landebahn war frei. Wolfgangs Gedanken faszinieren mich immer noch. Ich denke gern an die spannenden Vorlesungen an der Universität, zu denen er mich oft mitnahm. Er erklärte mir alles und machte mich mit den Professoren bekannt. Ich begriff die Ästhetik eines Versuchsaufbaus. Ich war die erste Versuchsperson für seine Diplomarbeit im Labor. Ich hing am Gerät zur Messung des Hautwiderstandes und der Dozent stand mit der Stoppuhr vor mir, dann ließ der Oszillograph grüne Wellen tanzen. Der Dozent rief mir ein Wort zu und ich lieferte ihm eine Wortkette der freien Assoziation, der Schreiber legte los und zeichnete Linien auf das Millimeterendlospapier. Es war nur ein Test, ob die Geräte funktionieren. Es hat Spaß gemacht. Es war aufregend im Labor. Ich bewirtete die Studenten in unserem Haus und ich liebte das Studieren in den Büchern und die Gruppenarbeit. Ich studierte immer mit, obwohl ich niemals Abitur gemacht habe. Ich kochte den Kaffee für die Studenten. Ich kümmerte mich um die Versuchspersonen und machte Termine ab.
Heute gehe ich voller Wehmut an den Universitätsgebäuden vorbei. Ich kenne alle Räume für die Vorlesungen in Psychologie. Jetzt ist alles vorbei. Heute weiß ich, wie sehr er mich mit einbezogen hat, wie aufregend und lebendig alles war. Ich vermisse die Dozenten und die Studenten und die Gespräche um die Psychologie, der Seelenkunde. Ich vermisse die Gespräche mit ihm und unser Philosophieren bis spät in die Nacht. Meine Gedanken waren ihm immer wichtig. Meine spekulativen Anregungen steckten auch im Versuchsaufbau. Jetzt liegt die Diplomarbeit im Archiv der Universität und die Idee zur Doktorarbeit wird niemals ausgeführt.
Ich denke wieder an die Worte dieser Frau in der S-Bahn. Als ich sie hörte, da kam mir der ganze Freud wieder in den Sinn. Großkotzig dachte ich: "Klassische Schlüsselneurose. Gehört zu den Zwangsneurosen. Warum geht sie nicht zu einem guten Analytiker? Der Schlüssel ist ein männliches Symbol und das Schloß ein weibliches. Schlüssel und Schloß passen nicht mehr ineinander. Du kriegst die Tür nicht zu! Es klemmt. Man fühlt sich verklemmt. Freud hat aber auch gesagt, daß eine Zigarre manchmal nur eine Zigarre ist! Diese Frau braucht einen guten Psychologen, dem sie alles erzählen kann."
Oh, wie ich diese Frau verstehen kann. Wir dürfen nicht darüber sprechen, wie es ist, wenn einem niemand mehr über das Haar streichelt, keiner ein zärtliches Wort in das Ohr flüstert. Es gibt keinen Kuß im Vorübergehen, keine Umarmung, kein Zärtlichkeit mehr. Unsere Hände dürfen nicht mehr die ganze Liebe ausdrücken, nichts mehr in glühender Leidenschaft umfangen.
Ich sitze in diesem Raum, der einmal ein Therapieraum werden sollte. Er war schon bei der Baubehörde angemeldet. Therapiescheine liegen im Ordner. Alles umsonst. Was hätte er getan, wenn diese Frau seine Klientin geworden wäre und jetzt in diesem Zimmer mit ihm sitzen würde? Er wäre ganz Ohr gewesen. Freischwebende Aufmerksamkeit. Er hätte sie gefragt, was sie wirklich fühlt, wenn sie zurück in die Wohnung geht. Er hätte sie gefragt, was ihr bei dem Wort Schlüssel so alles in den Sinn kommt. Er hätte ihr das Gefühl gegeben, daß all ihre Gefühle in Ordnung sind. Er hätte nichts wegerklärt und nichts bewertet. Er wäre ganz für sie da gewesen. Er hätte vielleicht ihre Worte noch einmal wiederholt, weil man sich oft selbst nicht zuhört. Er hätte ihr das Gefühl gegeben, daß sie sich traurig und verlassen fühlen darf. Er hätte sie nicht unterbrochen. Er hätte sie auch schweigen lassen. Er hätte vielleicht ihre Hand gehalten, wenn sie einen Weinkrampf bekommen hätte. In jedem Fall wäre sie erleichtert aus der Tür gegangen, in dem Gefühl, daß ihr immer ein Mensch wirklich zuhören wird und für sie da ist. Sie wäre von ganz allein auf die verklemmte Tür gekommen, die verdrängte Sexualität. Auf diesem Weg hätte sie verschlossene Türen der Kindheit wiederentdeckt und geöffnet. Er hätte sie niemals mit auch nur einem Blick gestraft oder gelobt, nur ermuntert. Er wäre immer in der frei schwebenden Aufmerksamkeit und wohlwollend geblieben. Er hätte sie so angenommen, wie sie ist. Das hätte ihr bestimmt geholfen. Es hat mir geholfen. Er hat die Menschen so geliebt, das hat mich und so viele andere Menschen gerettet und uns weitergebracht. Dieses Gefühl soll mein Mandala ausdrücken, doch meine Worte und die Farben reichen nicht aus. Wie schade, daß er nicht mehr Therapeut geworden ist. Diese einsichtsvolle und sanfte Frau in der S-Bahn hätte er bestimmt gern als Klientin gehabt und sie hätte ihn gebraucht.
Jetzt läuft meine CD schon zum dritten Mal durch den Computer. Jim Morrison singt: "Wach auf, schüttle die Träume aus deinem Haar, mein schönes Kind, mein süßes. Wähle den Tag und wähle das Zeichen deines Tages. Der Tag ist göttlich, das erste was du siehst. "
Es ist 1.30 Uhr. Halbmond. Die Nacht gleitet dahin und die Musik ruft den Tag. Ich bin noch ganz in Amerika. Die Worte von Jim Morrison lassen sich nicht übersetzen. Die amerikanischen Worte klingen weicher. Ich schreibe einfach drauflos, denn das Mandala läßt alles los. Mein Sohn wiegt sich in den Schlaf. Die Katze saust noch um die Ecken. Ich werde mich auch in den Schlaf begeben, meine einzige Zuflucht, kurze Erlösung von Leid und ewigem Liebeskummer, seliger Fluß des Vergessens.
In den Träumen erschließt sich noch das Paradies, in meinen Träumen lebt er noch, da kann ich ihn sehen und seine Stimme hören. In unseren Träumen gibt es keinen endgültigen Tod. In unseren Träumen ist der Tod nur das Erwachen. Die Träume wollen in den Tag hineingebracht und erlöst werden. Mein Tag will sich im Schlaf erlösen. Geben und Nehmen. Einatmen und Ausatmen. Das Leben ist ein Wechselspiel. Mein Mandala tanzt sich in die Harmonie des Augenblicks durch die Musik und dabei fallen mir die Augen zu.
Freitag. 22.42 Uhr. Ich sitze im Bademantel vor dem Computer. Freitag ist mein Badetag. Freitags schreibe ich eigentlich nie. Alte Verhaltensmuster wollen durchbrochen werden. Das ist der Sinn des Mandalas. Das ist der Sinn jeder Meditation. Man soll sich nicht an Gedanken festkrallen, man soll sie beobachten und ziehen lassen. Vertiefen und loslassen. Die Gedanken in die Stille führen, damit neue entstehen können. Raum schaffen. Ich höre Prince, der sich auch Symbol oder Tarnkappe nennt. Seine Musik ist für die Ohren ungewohnt. Seine Rhythmen machen Witze. Er läßt sich in Kleidern fotografieren. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Er singt immer in ganz hohen Tönen über die Liebe. Bei ihm vereinigen sich Venus und Mars zu einem ganz neuen Planeten, damit der Krieg zwischen Mann und Frau aufhört.
Der Film über die Kunst im Himalaja ist ausgefallen. Jetzt ist nur die Erwartung des Filmes in meiner Erinnerung. Ich entdeckte aber in der Zeitung das Foto eines Künstlers vor seinen Mandalas. Die Überschrift lautete: "Indische Mandalas - eine ganz runde Sache ". Michael Sucker malt Kreis- und Quadratbilder in freundlichen Farben. Er will, daß der Mensch etwas Positives sieht. Man kann in seinen Bildern ein Auge sehen, Spiralnebel oder eine Welle im Ozean. Die Kreise bewegen uns. Die Zeit hat mich zu dem geführt, was ich suchte. Ich entdeckte ein Mandala im Bild eines unbekannten Künstlers! Dieser "Zufall" liegt nur im Brennpunkt meiner Aufmerksamkeit. Gebündelte Energie. Konzentration auf die synchrone Welt. Diese Idee stammt auch von C.G. Jung.
Psychologen sehen alles in einem anderen Licht. Psychologen machen sich Gedanken um das Bewußtsein. Wolfgang sagte, daß ein Psychologe auch ein Magier und ein Schamane ist, denn er arbeitet mit dem Zauberwort und schöpft aus der Quelle seiner Lebenserfahrung. Diese Quelle liegt auch im Studium der Kunst. Freud schrieb ganze Abhandlungen über Kunstwerke. Prince verwandelt einen Schuhplattler in einen Rap. Die Kunst kann uns mitnehmen. Sie kann uns aber auch zur Ruhe bringen.
Ich muß an Wolfgangs ewige Ruhe denken. Zehn Jahre, bevor er in die große Ruhe einging, da war er schon zur Ruhe gekommen. Eines Tages kam er nach Hause und war vollkommen verändert. Er saß an unserem Eßtisch aus Marmor und er lächelte, seine Augen strahlten. Er sah so glücklich aus und ruhte so sehr in sich selbst, daß es auf seine ganze Umgebung abfärbte. Unsere Wohnung hatte sich in ein Paradies verwandelt. Ich konnte es nicht fassen, denn ich sah an diesem Tag einen erleuchteten Menschen. Unsere Freunde bemerkten diese Veränderung auch. Sie kamen immer öfter.
Er freute sich über jede Mahlzeit, die ich ihm gekocht hatte und genoß jeden Bissen. Er nahm mich immer öfter in den Arm. Er verrichtete seine täglichen Pflichten mit Sorgfalt und Gleichmut. Nichts war unwichtig oder zu wichtig. Jeder Sonnenstrahl machte ihm Freude. Ich fragte ihn, was geschehen sei. Er aber sagte nur: "Eigentlich muß ich nichts mehr tun. Ich tue aber alles gern. Ich will nichts mehr erreichen, denn alles erreicht mich. Ich könnte immer nur dasitzen und den Baum auf der anderen Straßenseite beobachten. Ich sehe, wie Blatt für Blatt vom Baume fällt und jedes Blatt fällt anders. Ich bin glücklich. Manchmal ist die Welt ganz heil, wir müssen es nur sehen!" Da wußte ich, daß er das Wunder, das jedem Augenblick innewohnt, entdeckt hatte. Ich erkannte, daß er mein großer Lehrmeister war.
Die letzten zehn Jahre war er mit Hingabe für alle da. Alle sprachen von der bösen Welt da draußen, wenn sie aus unserem Fenster sahen. Niemand wollte da raus. Ich auch nicht. Er war die Sonne in unserem Paradies. Mein Sohn schmiegte sich an seinen Körper und alle Wunden heilten. Wir konnten uns alle bei ihm aussprechen. Seine Antworten waren voller Lebensweisheit. Er hatte keine Angst mehr vor der Welt. Sie machte ihn manchmal nur ein wenig traurig.
Wenn nur alle die Welt mit seinen Augen gesehen hätten, dann lebten wir im Paradies. Es kann sein, daß wir alle die Erleuchtung erlangen werden, einige früher und andere später. Das Wort Erleuchtung ist abgenutzt und schwer zu verstehen. Sri Aurobindo schrieb: "Licht ist in erster Linie eine spirituelle Offenbarung der göttlichen Wirklichkeit, die erleuchtet. Das materielle Licht ist eine spätere Erscheinung oder eine Umwandlung des Lichts in Materie für die Zwecke der materiellen Energie. "Zeit ist göttliche Energie. Was mache ich damit? Ich verwandle Wolfgangs Liebe in Buchstaben. In seinem Buch "Sammlung", das er noch schreiben wollte, hat er an den Anfang ein Zitat von Jesaja gesetzt: "Mache dich auf. Werde Licht. Denn dein Licht kommt. Und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir. "Machen wir uns auf. Öffnen wir uns. Machen wir uns auf den Weg. Machen wir uns die Zeit nicht zum Feind, sonst bindet sie uns.
Montag. 1.31 Uhr. Es ist schon wieder spät geworden. Ich lese meinen Text immer wieder durch. Es fallen mir immer neue Sätze ein, die ich einfach dazwischenklemme. Mit dem Cursor des Computers sause ich über die Schrift wie über eine lange Schriftrolle. Schreiben am Computer ist wie Autofahren. Ich schreddere mich so durch und kratze die Kurve. Schreddern ist das neue Lieblingswort meines Sohnes. Die Schreibkorrektur des Computers kennt es nicht, deshalb unterstreicht der Computer dieses Wort mit beunruhigenden Wellenlinien. Ich finde das Wort lustig. Ich werde es dem Computer beibringen.
Mein Sohn sagt: "Ich schreddere mal eben zum Dönerladen." Sprache ist erfinderisch. Sprache erneuert sich immer. Modewörter tauchen urplötzlich in der Umgangssprache auf und verschwinden wieder. Manchmal werden sie salonfähig. In meiner Generation haben sie das Wort "geil" etabliert, ein verbotenes Wort vom Kiez, ein Reizwort im Generationskonflikt. Das Wort "Butze" sagt keiner mehr. So haben die Jungen die Mädchen genannt. Bei dem Wort haben wir Mädchen immer die Zunge herausgestreckt oder gelächelt.
Wir haben uns wild in Jeans und Leder gekleidet, aber die Haut darunter war sehr dünn. Wir waren auch sehr romantisch. Ich bin noch ein Kind der guten alten Hippiezeit. Die Leute in meinem Alter werden immer wehmütig, wenn sie an diese Zeit denken. Wir hängen an unserer Musik. Sie sagen: "Seht nur, Mick Jagger steht immer noch auf der Bühne und Clapton spielt immer noch die beste Gitarre der Welt! Wir waren so besessen von der Musik. Wir hatten eine Allergie gegen den Materialismus der Wirtschaftswunderkinder, die sich so abrackerten, damit wir es einmal besser haben, damit wir niemals hungern und frieren müssen. Es ist wahr, sie haben den Schutt weggeräumt und das Sirenengeheul bei Fliegeralarm dröhnt wohl bis heute in ihren Ohren und macht immer noch Angst. Kriegskinder! Sie hatten alles für uns, nur keine Zeit. Erich Fromm schrieb in dieser Zeit ein Buch mit dem Titel "Haben Oder Sein ".
Wenn unsere Eltern Zeit hatten, dann saßen sie vor dem Fernseher. Wir hörten lieber Musik. Viele Jungen spielten in einer Band. Wir konnten die alten Kriegsheldengeschichten nicht mehr hören, die man sich in den Kneipen immer noch erzählte. Wir haben uns aus Protest auf die Suche nach einem neuen Bewußtsein gemacht. Wir suchten Gott in Ost und West. Wir haben unsere Autos psychedelisch bemalt. Alles wurde poppig und bunt. Wir haben ständig demonstriert. Wir haben es mit Drogen und Religion versucht. Jetzt ist alles vermarktet.
Wir haben auch Fehler gemacht. Wir sind nicht besser oder schlechter als jede andere Generation. Wir hatten Glück, daß Hitler bei unserer Geburt schon lange tot war. Wir werden langsam älter. Mein Vater hat den Jazz geliebt und mein Sohn läßt nur den Techno gelten. Mein Großvater hat noch seine "Veronika der Lenz ist da" gesungen. Zwischen dem Jazz meines Vaters und unseren Beatles schwang Elvis die Hüften. Wir können unsere Jugend in Musikstücke aufteilen. Die Musik speichert die Erinnerung.
Ich habe Wolfgang in einer Diskothek kennen gelernt. Diskotheken waren damals neu. Dort traf man sich zur Musik und jeder durfte tanzen, wie es ihm beliebt. Es gab keine vorgeschriebenen Tanzschulschritte. Diese Diskothek war nach einem ganz berühmten Indianer benannt: "Crazy Horse". Man ging durch eine Western-Schwingtür hinein. Es gab eine kleine Bar, Kuschelecken und eine große Tanzfläche mit einer Lichtorgel.
Ich sah Wolfgang vor einem Regal mit Gläsern stehen. Er träumte vor sich hin. Er sah aus wie der Pierrot aus dem Film "Kinder des Olymp". Ich war auf den ersten Blick verliebt. Ich hatte mich schon oft verliebt, aber niemals auf den ersten Blick, niemals so heftig. Ich spürte einen starken magnetischen Sog, der von seinem Körper ausging. Ich konnte ihn auf zehn Meilen gegen den Wind gut riechen. Es war, als hätte ich mich schon eine Ewigkeit nach ihm gesehnt. Es war Magie. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Bisher war meine Liebe immer verflogen, war nur der Duft eines billigen Parfums gewesen. An diesem Abend, als ich ihn sah, da hatte ich schon jeden Gedanken an die Liebe aufgegeben. Ich sah mich schon als alte Jungfer die Kinder der Cousine hüten. An eine Ehe hatte ich keinen Gedanken verschwendet.
Mein letzter Freund war mir immer fremder geworden, je länger ich ihn kannte. Er spielte den Blues so gut, wir teilten unsere Liebe zur Musik, aber er hatte kein Gewissen. Der Freund davor, er war schön und charmant gewesen, aber auch ein unverbesserlicher Egoist. Alle Mädchen beneideten mich um ihn, aber ich machte einfach Schluß, weil er immer nur an seine eigenen Interessen dachte. Dann erinnerte ich mich an einen, der nur geschwiegen hat und an einen, mit dem ich mich im Kino langweilte. Ich mochte seine Filme nicht und er konnte mit meinen nichts anfangen. Ich war immer in einer anderen Welt. Ganz am Anfang war einer, der hat mich tief verletzt. Ich habe mit allen Schluß gemacht und mich keinem wirklich geöffnet.
An diesem Abend fühlte ich mich so allein. Ich sah so viele Menschen auf der Tanzfläche. Ich kannte sie fast alle. Ich hatte viele Freunde. Ich kannte sie und kannte doch niemanden wirklich. Die Freiheit, die ich so sehr ersehnt hatte, schmeckte auf einmal bitter. Ich fühlte mich unendlich einsam. Ich spürte zum ersten Mal den Einzelgänger in mir. Die Musik, das Licht, alles rückte in weite Ferne. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel: "Herr, schick mir einen Mann, den ich lieben kann!" - und war verwundert. Seit meiner Kindheit hatte ich nicht mehr gebetet. Meine atheistische Phase war auf einmal beendet und Gott hat mich wohl sofort erhört. Wolfgang kam zu mir und fragte: "Tanzt du mit mir?"
Von einer Sekunde auf die andere war ich nicht mehr allein. Es war so leicht, ihn zu lieben. Wir tanzten zu einem Spiritual: "Oh What A Happy Day. "Wir tanzten uns entgegen und wir tanzten uns in die Arme. Welch ein glücklicher Tag war das! Wolfgang hatte an diesem Abend das gleiche gedacht. Ich weiß nicht, ob er gebetet hat, aber er hatte die Einsamkeit auch so satt. Er sah mich und dachte: "Ich kann es ja noch einmal versuchen."
Ich kann die ganze Geschichte nicht im Detail erzählen, sonst wird sie zu lang. Da ist wirklich noch genug Stoff für einen ganzen Roman, den ich noch schreiben will. An jenem Abend sang ich auf dem Weg nach Hause. Ich sang so laut ich konnte: "I?m So Glad ", das war ein Song von den Cream. Ich war so froh und so glücklich, daß ich am liebsten die ganze Welt umarmt hätte. Ich hatte allen Grund: Der Duft unserer Liebe ist niemals verflogen, er wurde immer intensiver und kostbarer. Kein Mensch kann sagen, was die Liebe ist. Sie ist ein großes Geheimnis.
Heute habe ich im Antiquariat eine Biographie über Alexis Korner entdeckt. Alexis Korner hat die großen Rockstars zusammengebracht. Er war ein großer Bluesmusiker. Wer erinnert sich noch an ihn? Damals hat er zeitweilig in einer Hamburger Kneipe neben dem Madhouse gesessen und wir jungen Leute haben uns um ihn versammelt. Er war ein sehr bescheidener und angenehmer Mensch. Seine tiefe Bluesstimme hörte man oft im Radio. Er erzählte alles über den Blues. Der Blues ist die Musik der Trauernden. Eric Clapton spielt ihn nur noch, weil sein Sohn gestorben ist. Er singt über die Tränen im Himmel.
Alexis Korner ist mit fünfundfünfzig Jahren im Jahre 1984 an Krebs gestorben. Sein Tod wurde kaum bemerkt. Seit Wolfgangs Tod scheint es mir, daß es wichtig ist, den Geist der Toten zu bewahren. Harry Shapiro hat ein Buch über Alexis Korner geschrieben. Das freut mich. Die Trauernden sind eine seltsame Truppe. Wolf Biermann hat sein ganzes Leben für seinen toten Vater gekämpft. Der Tod seines Vaters war ungerecht. Die Schriftstellerin Luise Rinser sagt, daß ihr totes Kind nicht tot ist, sondern in ihr weiterlebt. Für sie gibt es den Tod nicht. Nur Geburt und Sterben. Weder Leben noch Tod. Sie sagt nicht mehr: "Ich lebe", sondern sie sagt nur noch: "Ich liebe". So spricht die Weisheit des Alters.
Wolfgang lebt noch in jeder Zelle meines Körpers. Manchmal denke ich, daß die eine Hälfte meiner Seele mit ihm gegangen ist und die andere Hälfte seiner Seele bei mir geblieben ist. Während seiner Krankheit sah ich mich im Alptraum als halber Mensch durch die Welt gehen und ich sah mich erblinden. Als er gestorben war, fühlte ich ein großes Feuer, daß meine Seele verzehrte. Ich blutete aus. Ich war wie vom Blitz erschlagen. Ich erstarrte zur Salzsäule. Jetzt kann ich seine Liebe wieder spüren.
Ich kann mich wieder spüren, weil Sabine mir geholfen hat. Sie hatte ein offenes Ohr für mich. Sie hat mich an Wolfgang erinnert. Sie heilt mit dem gleichen Geist. Oft spricht mich mein Sohn in der dritten Person an. Er sagt zu mir: "Ihr habt" und "Ihr denkt" und "Ihr meint". Andere Verwandte und Freunde sprechen mich manchmal auch so an. Wenn ich dann frage, ob ich denn eine Königin sei, wen sie denn meinen, dann sagen sie: "Dich und Wolfgang. "Wenn ich ihnen dann sage, daß er tot ist, dann schütteln sie den Kopf und sagen: "Er lebt noch in dir weiter. "
Jim Morrison erzählt auf seiner Platte eine verrückte Geschichte: "Ich und meine Mutter und Vater und ein Großvater, wir fuhren durch die Wüste in der Morgendämmerung, und ein Lastwagen, vollgeladen mit indianischen Arbeitern, war gerade mit einem anderen Auto zusammengestoßen. Ich weiß nicht, was passierte, aber da lagen die Indianer überall auf der Straße und verbluteten. Der Wagen hielt. Zum ersten Mal fürchtete ich mich. Ich muß ungefähr vier Jahre alt gewesen sein, wo ein Kind noch wie eine Blume ist, der Kopf hängt im Wind. Wenn ich daran zurückdenke, dann kommt mir der Gedanke, daß die Seelen der toten Indianer, vielleicht ein oder zwei von ihnen, in meine Seele geschlüpft sind. Und sie sind immer noch da. "
Jim Morrison war nicht verrückt, er hat nur ab und zu einen über den Durst getrunken. Sind wir denn von Geistern besessen? Das wäre ein primitiver Gedanke. Die Toten beseelen uns. In der Musik von Jim Morrison sind die indianischen Rasseln zu hören. Das indianische Element macht seine Musik und seinen Tanz so schön. Gute Geister wollen bewahrt werden. Der Sohn von Alexis Korner sagt: "Er freute sich am Leben und er ist mein Vater - nicht war, weil sein Körper gestorben sein mag, aber sein Geist sicher nicht."
Wenige Tage vor seinem Tod, da fragte Wolfgang mich: "Darf meine Seele mit deiner verschmelzen?" Ich habe genickt und dann verschmolzen unsere Seelen in einem Kuß. Danach bedankte er sich für meine Treue, für meine Liebe, für meine Worte. Er sagte: "Du bist meine Frau gewesen, meine Mutter, meine Freundin, meine Geliebte, meine Schwester, mein Kind." Ich sagte: "Du bist mein Mann gewesen, mein Vater, mein Freund, mein Geliebter, mein Bruder, mein Kind. Du bist die ganze Zeit mein Guru gewesen, das weiß ich jetzt. Du hast mich aus der Dunkelheit ins Licht geführt. Du warst mein Seelenführer." Er sagte: "Du bist mein Guru gewesen. Weißt du das nicht?" Am Ende sind wir darauf gekommen, das wir uns gegenseitig ein Guru gewesen sind. War das nicht ein schöner Abschied?
Wie kann man sich gegenseitig ein Guru sein? Man muß sich für den anderen ändern. Beide müssen sich ändern. Es hilft nicht, wenn man nur den anderen ändern will. Man muß bei sich selbst anfangen. Man macht es freiwillig, aus Liebe. Man lernt aus seinen Fehlern, weil man den anderen nicht verletzten will. Heinz-Rudolf Kunze sang einmal in einem Lied: "Müssen Menschen denn Beziehungen haben, betrachten sie sich denn als Staaten? "In der Sprache liegt der Hund begraben.
Die Grenzen müssen fallen und es muß abgerüstet werden, dann bekommen wir einen Einblick in die Liebe. Mein Mandala ist ein Eindruck von diesem Einblick, damit ich es nicht vergesse und diese Liebe für andere Menschen bewahre. Wolfgang hat mir das Paradies versprochen. Wenn ich mich so betrachte, dann kann ich an diese Eintrittskarte nicht glauben. Jeden Tag gebe ich mir Mühe und jeden Tag mache ich Fehler. Die Landkarte zum Seelenheil ist blanke Theorie. Je älter man wird, desto tiefer geht es in die Schuld, in die Menschwerdung hinein. So hat es Hermann Hesse gesagt. Dennoch reiste ich in meinen Träumen in ferne Paradiese. Irgendwo gibt es sie. Vielleicht treffen wir die Geliebten nach dem Tode wieder. Da, wo mein Wolfgang ist, wird immer das Paradies sein. Sie ist immer noch in mir, die Liebe zwischen Ich und Du. Seelenverschmelzung!