Das erste Nest für die Hochzeit
Es war ein süßes Erwachen. Mein Körper schwebte von Zuckerwatte umhüllt, in Honig gebadet, von seinen sanften Händen tausendmal umstreichelt und den zarten warmen Lippen umküßt in einem traumhaften Kokon, einem Gespinst aus Zärtlichkeit, Liebe und Leidenschaft. Ich erwachte in diesem Schweben, dem Taumel der Liebe. Die Welt trug mich auf ihren Händen den ersten Sonnenstrahlen entgegen. Der Morgen wiegte mich hin und her, das helle Licht kitzelte die Augen wach. Im Sommer hörte ich jeden Morgen das Gurren der Tauben auf dem Balkon. Aber nun waren sie nicht da, denn es war immer noch Winter. Die Turteltauben gurrten tief aus dem Bauch. Eine Taube nistete neuerdings auf unserem Balkon in einem Blumentopf und brütete dort ihre Eier aus. Niemand sollte sie stören und niemand durfte die Balkontür öffnen, niemand sie vertreiben, so lautete unser erstes Gesetz in unserem ersten Nest.
Wir liebten ihr gru... guruh... guru. Die Tauben waren unsere Freunde und unser heimliches Wappentier in diesem Haus. Ihr Turteln war der Gesang unseres Herzens. Die Taube war uns ein Symbol der Freude und der Geborgenheit, des Friedens und der Liebe. Sie war das Symbol eines Geistes, der heilig ist. Im Sommer riefen sie mich dort aus meinen samtweichen und seidenen Nächten, in denen ich vom süßen Nektar kosten durfte, werbend und umworben, verwandelt in eine Königin der Nacht. Mit dem Haar voller Sterne erwachte ich an diesem Morgen. Ich fühlte mich wie Julia. Sie war aus ihrer ersten Liebesnacht erwacht und über Nacht hatte sie einen Sinn für die Sinnlichkeit entwickelt, denn Romeo hatte die Wahrheit gesprochen: Seine Lippen waren Pilger!
Mein Körper schwebte in den Morgen. Er war leicht und biegsam wie eine junge Birke oder eine Trauerweide, die ihre Zweige in das Wasser taucht. Ich war langsam aufgewacht und dann sprach ich diesen Satz noch einmal laut vor mich hin, mit dem innigsten Wunsch, diese Nacht, nur diese eine Nacht, sie möge nie zu Ende gehen: "War es die Nachtigall oder die Lerche?" Wolfgang hatte meine Stimme im Schlaf gehört und legte den Arm um mich, als wolle er mit mir dem Tag entfliehen und ewig in der süßen, noch nicht verflogenen Erinnerung an die innigsten Umarmungen verweilen, den Duft noch einsaugen, als würde es keine Morgendämmerung geben. Im Morgengrauen haßte ich den Würgegriff des Alltags, der uns aus allem herausriß, diese elende Alltäglichkeit mit ihren Anforderungen, die alles zersplitterte, alles aus der göttlichen Zeit herausfallen ließ, um sie zu teilen oder zu vergeuden. Ich sah ein Blinzeln in Wolfgangs Augen und dann sagte er leise: "Es war doch die Lerche."
Im Sommer lachten wir oft, weil unsere Tauben nicht so schön wie die Lerchen sangen. Die Lerchen waren dann weit fort auf dem Lande bei den Bauern. Sie zwitscherten über den Kartoffelfeldern und begrüßten den Tag. Einmal habe ich auf dem Lande eine Nachtigall gesehen. Es war Mitternacht. Im blassen Mondlicht saß die Nachtigall in einem Baum. Ihr Federkleid war unscheinbar. Sie sang dort in aller Stille ihr Liebeslied, als hätte sie die Melodie schon zu Urzeiten von einem chinesischen Meister erlernt. Ich werde es niemals vergessen. Wer jemals das Lied einer Nachtigall hört, der weiß, wie Julia erwachte.
Ich erwachte und dann nickte ich wieder ein, nur für einen Augenblick, um noch einmal den Finger in den Honig zu tauchen. Aber die aufgehende Sonne kannte kein Erbarmen und dann suchten meine Arme Romeo im leeren Federbett. Er war schon aufgestanden. Jeden Morgen lief Wolfgang in aller Frühe zum Bäcker, manchmal sogar noch vor der Morgendämmerung. Der Geruch der frischen Brötchen zog ihn magisch an. Ein süßer und herzhafter Duft wehte die halbe Nacht durch unsere kleine Straße und zog durch alle Ritzen der Häuser.
Er stand oft lange in der Backstube und sah dem Bäcker bei der Arbeit zu, unterhielt sich mit ihm, während die knusprigen Rundstücke auf dem heißen Ofenblech abkühlten. Er sagte, dieser Bäcker sei der beste Bäcker in der ganzen Stadt. Der Duft aus der Backstube war wirklich unwiderstehlich. Auf ein geheimes Klopfzeichen ließ der Bäcker ihn hinein. Wolfgang war immer der erste Kunde des Tages und er war der einzige, der die Backstube betreten durfte. Der Bäckermeister verriet ihm die Geheimnisse um die richtige Rezeptur seines Brotes. Er sprach über aufgehende Hefe, zeigte ihm das Rühren und Kneten, erwähnte das Gewicht der Brote und das Aroma der Gewürze, die Schärfe des Kümmels, alles war bedeutend und wichtig für das kostbare Brot. Wolfgang liebte diese Backstube und er nannte den Bäcker seinen Freund und Alchimisten. Die ewige Hitze des Backofens brachte sie auch in diesem Winter zum Schwitzen.
Die Brötchen lagen jetzt in der Papiertüte auf unserem Küchentisch. Die ganze Wohnung duftete. Der Duft kroch zu mir in das Bett. Wolfgang wollte meinen Appetit wecken. Jeden Morgen lockte er mich wie eine kleine Katze aus dem Bett. Er wußte, wie schwer mir das Aufstehen fiel, und daß ich lange Zeit brauchte, um meine Gedanken zu sortieren. In den Morgenstunden war ich immer schlecht gelaunt und ich schämte mich dafür. Mein Geist sprühte erst am Nachmittag und dann hielt meine gute Laune bis tief in die Nacht.
An diesem Morgen war alles anders. Ich hörte, wie er sich rasierte. Das Summen des Rasierapparates klang wie Musik in meinen Ohren. Das Summen und Brummen wollte gar nicht mehr aufhören. Warum rasierte er sich so gründlich? Es summte und summte. Ich hörte, wie er sich wusch. Das Wasser rauschte und rauschte. Es plätscherte im klitzekleinen Muschelwaschbecken und in der alten Zinkwanne schwappte es laut über. Das Wasser war so kalt wie am Nordpol, deshalb pfiff der Kessel in der Küche so laut. Warum wusch er sich mit diesem Eifer? Warum hielt er es so lange in der sonnengelb lackierten Toilette aus, obwohl dort das Wasser zu Eiszapfen gefror? In unserem ersten Nest gab es kein warmes Wasser. Es rauschte und plätscherte ununterbrochen. Seine Morgentoilette war diesmal so laut wie die Musik eines ganzen Orchesters. Ich hörte, wie er seine Schuhe putzte. Die Schuhbürsten fegten im schnellen Tempo über das Leder. Er hatte noch niemals an einem Freitag in aller Herrgottsfrühe seine Schuhe geputzt. Für wen wollte er sich so herausputzen? Da fiel es mir ein: Für mich!
All diese Morgengeräusche waren eine einzige Liebeserklärung. Er wollte, daß ich sie höre. Er wollte, daß ich wußte, daß dieser Tag für ihn von Bedeutung war. Ich war auf einmal hellwach. Dieser Tag war ein ganz besonderer Tag! Es war der Tag meiner Hochzeit. Hohe Zeit! Das Leben tanzte auf dem Zenit! Das Datum dieses Tages war in die Eheringe aus Weißgold graviert. Sie lagen in einer blauen Seidenschachtel in seinem Jackett. Ich erinnerte mich wie auf einen Glockenschlag! Alles erhellte sich. Ich begrüßte den Tag: 28. Januar 1972.
Ich saß aufrecht im Bett, die warme Decke hatte ich wie eine Indianerin um den Körper gehüllt. Es war kalt, denn der alte Ofen spendete nur Ruß. Er gehörte zum alten Eisen und war einfach ausgebrannt. Die Klappe stand offen, der Schürhaken lehnte sich traurig gegen einen leeren Eimer für Briketts. Das Ding war nicht mehr in Gang zu bringen. Im Abzugsrohr waren Risse und Löcher. Kohlenmonoxid: Vergiftungsgefahr! Wolfgang war ein As in Chemie, immer erklärte er mir alles, während der Schornsteinfeger nur kopfschüttelnd den Hauswirt verflucht hatte.
Die Stäbe der alten Heizsonne glühten, aber sie vertrieben die Kälte nicht. Vor dem Schaukelstuhl standen altmodische Fußwärmer, die ich in einer verstaubten Ecke bei Woolworth aufgetrieben hatte. In meinem Schaukelstuhl hatte er mir die Geschichte vom Brot des Bäckers erzählt, ein altes und fast vergessenes Stück französischer Literatur. Dieser Schaukelstuhl hatte schon seine dritte Farbschicht. Wir hatten ihn braun lackiert, damit er zum alten Kleiderschrank paßte, den uns die Vormieterin überlassen hatte.
Ich hatte nur den Schaukelstuhl, das französische Bett und meine Plattensammlung in die kleine Wohnung mitgenommen. Ich saß gern in meinem Schaukelstuhl, wenn ich Musik hörte oder ein Buch las. Ich schaukelte im Rhythmus der Musik und der Worte. In den Büchern wurden ferne Welten durch die Kraft der Vorstellung lebendig. Ich sah dann rätselhafte Menschen in phantastischen Landschaften spazieren gehen. Ich folgte ihrem Weg durch alle Ebenen und Epochen der Zeit. Wolfgang teilte diese Leidenschaft mit mir. Wir lebten in der gleichen Welt. Er war ein poetischer Philosoph und ich war eine philosophische Poetin. Wir erhitzten unsere Gemüter in den Büchern. Es war ein reger Austausch. Von Anfang an liebten wir die gleiche Musik.
In unserem Haus lebten nur alte Leute. Die Alten lebten in vollkommener Stille. Kein Laut war zu hören, keine Zwischentöne, wenn wir gemeinsam Musik hörten. Wenn die Musik ganz verklungen war, dann sprachen wir über die Texte, die Stimmungen und Herkunft der Lieder, da gefiel uns ein Solo oder die ganze Komposition. Wir haßten es, wenn jemand mitten im Hören in die Musik hineinsprach und sie übertönen wollte, nicht abwarten konnte, bis die letzte Note verklungen war. Wir waren komische Käuze und es gab immer mehr Dinge in unserem Leben, die wir nur zu zweit wirklich genießen konnten. Wir fielen uns auch nicht ins Wort, hörten immer zu, was der andere zu sagen hatte, auch im Streit. Alles wurde verarbeitet. Es gab immer einen neuen Raum. Es gab immer einen Neuanfang. Wir waren so gespannt gewesen, wie sich unser gemeinsames Leben in unseren vier Wänden entwickeln würde. Drei Jahre waren nun wie im Fluge vergangen und alles wuchs, alles war im Aufblühen.
Ich betrachtete die vier Wände, deren Farbe ich so liebte. Über dem Bett hing das Poster mit dem Maschinenmenschen. Ich sah sein Innerstes. Ich sah ein Lächeln hinter der Fassade. Ich sah einen unsichtbaren Keim, den er in sich trug. Ich fühlte mich so wohl in diesem Nest, auch wenn es im Winter kalt war.
Die Wände hatten die Farbe des Flieders. Wolfgang hatte mir diese Lieblingsfarbe aus verschiedenen Abtönfarben in einem Farbeimer zusammengerührt, voller Sorgfalt, Hingabe und Liebe, bis ich den Flieder riechen konnte. Wir malten die Wände und hörten dabei Musik, drehten die Rolling Stones ein wenig lauter auf, denn die Alten im Haus waren schwerhörig. Wir bemalten die Wände mit Spaß und Schwung. Diese vier Wände waren der ewige Frühling!
Meine Augen wanderten wieder zurück. Auf dem Schaukelstuhl lag mein Hochzeitskleid. Es war mein erstes Abendkleid, das erste lange Kleid in meinem Leben. Es war nicht weiß. Es war ein langes Bauernkleid mit zarten Puffärmeln für eine orientalische Prinzessin. Es war ein Hippietraum aus London, Batik aus Malaysia. Es war rot wie die Blätter im Spätherbst, mit schwarzen und goldenen Blütenverzierungen.
Als ich es so betrachtete, erinnerte es mich an die melancholischen Farben auf der Fahne unseres Landes. Die deutsche Romantik war in das Kleid gewebt. Der Schnitt war klassisches Empire. Französischer Lebensstil der schönen Eugénie. Das Bündchen war so eng, daß man kaum atmen konnte. Nur Twiggy paßte dort hinein. Twiggy und ich. Es verlangte einen vornehmen Schritt in Stöckelschuhen, eine zarte Figur, elegante Bewegungen. Ich hatte mir dieses Kleid ausgesucht, denn es war wie ein Symbol für die Vielfalt im Weltbürgertum meiner himmlischen Ehe.
Es lag auf meinem Schaukelstuhl, weil er dort tatsächlich vor mir auf die Knie gegangen war und ich hatte es ausgehalten. Dabei dachte ich, daß niemand ihn auf die Knie zwingen sollte. Ich schon gar nicht! Er war immer so aufrecht. Ich bewunderte seine Haltung. Nur die leichte Krümmung seines Rückens machte mir Sorgen, denn er war sensibel und verletzbar. Mit meinem wilden Temperament gab ich ihm immer Rückendeckung, wenn nur der Hauch eines Angriffs in der Luft lag.
Ich hatte immer noch diese Angst vor Jägern. Sein Herz war mir jetzt das Kostbarste auf der ganzen Welt. Dabei war er so stark. Ich erinnerte mich. Er hatte mich sogar einmal mit blanken Fäusten verteidigt, mit einem einzigen Schlag einen Preisboxer in den K.O. geschickt, weil dieser Grobian mich mit Absicht geschubst hatte und ich dann unglücklich gegen die Radkappe eines Autos gefallen war. Für einige Sekunden war ich ohnmächtig gewesen, hatte tatsächlich bunte Sterne um meinen Kopf kreisen sehen, wie in einem Comic, dann wurde alles dunkel. Wolfgangs Stimme und seine Ohrfeigen zogen mich wieder ins Licht. Ich hörte das Entsetzten in seiner Stimme, seine Angst und seine Liebe. Augenblicklich gehorchte meine Seele seinem Befehl: "Wach auf, wach mir nur auf, komm ganz schnell zu mir zurück!"
Eine aufgeregte Menge hatte sich um mich versammelt. Ich sah nur noch, wie er auf diesen Wandschrank losging, der ihn schon in Angriffshaltung erwartete, wild mit den Fäusten in seine Richtung schlug, tänzelnd und schnaufend wie im Boxring, schon in Siegerpose, denn er hatte noch nie einen Kampf verloren. Wolfgang ging in Deckung und dann verpaßte er ihm einen einzigen Schlag direkt auf das Atemzentrum und der große Kerl fiel sofort um. Die Menge klatschte Beifall. Wolfgang war ein As in Biologie. Er liebte die Naturwissenschaften und sie waren für ihn nicht nur blanke Theorie. Er hatte sich geschlagen, obwohl ihm doch diese rohe Gewalt so abgrundtief zuwider war. Voller Ekel betrachtete er die eigene Faust. Er war für mich über seinen eigenen Schatten gesprungen. Als der Feind am Boden lag, stellte er ihn wieder auf die Beine. Zischend wie eine Schlange stellte er ihm die entscheidende Frage: "Was willst du aus deinem Leben machen? Willst du am Ende ein Mörder sein?" Ich hörte jemanden aus der Menge rufen: "Da kannst du mal sehen, daß die Intelligenz am Ende doch siegt." Wolfgang brachte ihm ein Glas Wasser und klopfte ihm auf die Schulter.
Der Preisboxer sah sehr nachdenklich aus. Ich hatte rasende Angst um Wolfgangs Leben gehabt, wäre fast vor Angst gestorben bei dem Gedanken, daß so ein Rohling ihn auf die Knie zwingt. Der Boxer reichte ihm die Hand und bot ihm die Freundschaft an. Er war das erste Mal in seinem Leben zu Boden gegangen und dann war er aufgewacht.
Später, nachdem die Wut verraucht war, sprach Wolfgang mit ihm. Sie sprachen über das Leben, das dem Preisboxer aus den Händen geglitten war. Es wuchs ihm über den Kopf. Ich war in seinen Augen nur ein zufällig vorbeilaufendes Opfer, ein Blitzableiter für seine Wut und die Hilflosigkeit gewesen. Wolfgang sprach mit ihm über dieses Leben und wie man noch einmal die Kurve kratzen kann. Der Boxer hat danach sein ganzes Leben umgekrempelt. Er suchte sich einen neuen Weg. Ich habe es miterlebt. Der Boxer war dankbar, daß ihm jemand die entscheidende Frage gestellt hatte. Er wollte nur noch sein Freund sein, mit ihm reden, im vollsten Vertrauen, wie mit einem Beichtvater. Ich war so stolz auf meinen Wolfgang. Niemand konnte ihn in die Knie zwingen. Er war so weise wie Laotse und so romantisch wie der junge Werther.
Er war ganz freiwillig auf die Knie gegangen, als er die Balkonszene Wirklichkeit werden ließ. Er hielt meine Hand und sagte: "Kannst du dich an diesen Moment erinnern? Diesen kurzen Moment in der Tür? Ich sehe dich da noch stehen. Du sagtest, beinahe nur im Vorübergehen, daß es dir das Herz brechen würde, wenn wir uns jemals trennen würden. Du sagtest, für eine Trennung sei es ein für alle mal zu spät. Ich sagte, daß es mir auch so geht und dann habe ich kurz genickt. Es war nur ein Augenblick, nur wenige Worte, aber sie ließen mich nicht los. Ich habe darüber nachgedacht. Wenn ich mich nach diesen drei Jahren von dir trennen müßte, dann wäre der Schmerz zu groß. Ich sehe dich da immer noch in der Tür stehen. Deine Augen leuchteten. Du warst so schön. Wenn wir uns nicht mehr trennen können, wenn wir uns so gut verstehen, dann können wir auch heiraten. Wenn wir einmal Kinder haben wollen, dann brauchen sie einen Namen. Deinen Vater kann ich nicht bitten, deshalb bitte ich dich. Der kleine Prinz bittet dich jetzt um diese zarte Hand."
Ich hätte am liebsten gleich ja gesagt, ohne darüber nachzudenken, aber ich erinnerte ihn an meine Wutanfälle. Ich erinnerte ihn an die vielen Teller, die er mir immer lachend, dennoch mit verzweifeltem Blick in die Hand reichte, weil das Nomadenblut in mir kochte. Er zuckte immer zusammen, wenn sie laut an der Wand zerschellten. Ich erinnerte ihn daran , daß wir bald kein Geschirr mehr für den Polterabend hätten, daß er sich gut überlegen solle, ob er es mit mir aushalten könne und dann erinnerte ich ihn an meine schlechte Morgenlaune. Er saß immer noch auf den Knien. Er lächelte und sagte dann: "Ich kenne dich. Du gehst nur auf die Barrikaden, wenn eine Sache ungerecht ist. Ich habe dich genau studiert. Deine Wut hat immer einen guten Grund. Ich habe auch meine Launen. Ich kann sehr nachtragend und pedantisch sein. Es zählt nicht. Ich liebe dich. Ich liebe auch deine Wut. Die Welt kann sie gebrauchen. Ich liebe einfach alles an dir. Liebst du mich auch mit meinen Schattenseiten?"
Ich sagte ja. Ich meinte es ernst. Ich fühlte dieses Ja in jeder Zelle meines Körpers. Dieses Ja war schon immer in mir gewesen, es lag schon im ersten Augenblick unserer Begegnung. Ich betrachtete immer noch die Wände und ich dachte an all diese Momente, ließ sie alle noch einmal an mir vorüberziehen.
Meine Blicke wanderten im Zimmer umher und ich dachte an meinen Mann. So würde ich ihn nennen dürfen, in ein paar Stunden, an diesem wundervollen Tag. Ich war immer noch in meinen Gedanken verloren, ganz versunken in meinem Glück. Mir fehlte noch der kleine Anstoß zum Aufstehen. Ich war eine hoffnungslose Träumerin.
Was würde geschehen, wenn alle Träume wie eine Seifenblase zerplatzen? Vielleicht würden wir uns in wenigen Jahren nur langweilig sein? Das heutige Datum würde alles festlegen und es gab keinen Notausgang. Ich dachte, daß alle Brautpaare wohl von einer heimlichen Panik ergriffen waren. Wenige Schritte nur führten zum Traualtar, wenige Schritte in ein langes Leben zu zweit. Ein Experiment, das vor dem Scheidungstrichter enden konnte. Streit und Wehklage lagen im Scheitern der Ehe. Ein entsetzlicher Gedanke an ein sinkendes Schiff überkam mich. Immer lauerten dunkle Dämonen in den Ecken, diese dummem Gedanken, sie hockten überall. Sie lagen in der Natur des Menschen. Ich verscheuchte sie einfach.
Der Koffer mit der Kamera stand neben dem Bett, immer griffbereit. An diesem Tag sollte die Fotoschule ohne mich auskommen. Keine Dunkelkammer, keine Großbildtechnik, keine Retusche, keine Optik, keine Motivsuche, keine Chemie und keine Foto-Grafik und kein Foto-Journalismus. Für mich tat sich heute eine ganz neue Perspektive auf, denn meine Hochzeit stand im Brennpunkt.
Ich liebte meine Kamera und nannte sie mein Baby. Meine Kamera war mein drittes Auge, denn sie verhalf mir immer zu einer ganz neuen Sicht. Ich ging gern in die Fotoschule. Ich mochte die Lehrer und die Mitschüler und das Gebäude. An diesem Tag würde ich die Kamera nicht anrühren, nicht um der Schärfe willen den Atem anhalten, während ich sie gegen den Bauch drückte und auf die Mattscheibe starrte. Heute warf ich keinen Blick auf die spiegelverkehrte Welt. An diesem Tag würde ich nicht auf den Auslöser drücken, damit sie mit offener Blende in rasender Geschwindigkeit das Licht einfing, damit ich ein Bild einfangen konnte. Ich wollte keinen einzigen, auch nicht diesen einen Moment festhalten: Kein Lächeln oder Weinen, keine Gesichtsfalte, nicht die Stimmung einer Straße, keine noch so schöne Landschaft oder die Wolke über dem Haus. Ich wollte mir nur alles noch einmal vor Augen führen.
Eines Tages wollte ich sie aufschreiben, die magischen Momente, die ich mit ihm erlebt hatte. Ich wollte den Zauber und die Magie der Bilder in Worte fassen, nicht nur mit der Kamera einfangen. Irgendwann würde ich in den Elfenbeinturm einziehen, das wußte ich. Irgendwann und irgendwo in ferner Zukunft sah ich den Elfenbeinturm, meine kleine Schreibstube. Bis dahin wollte ich eine Fotografin sein, ein Schattenjäger, ein Fänger des Lichts. Bis dahin wollte ich mit Wolfgang die freie Wildbahn erforschen. Bis dahin wollte ich das Sehen lernen. Eine klare Sicht der Dinge, gab es das?
Alle Fotoschüler fotografierten das gleiche Haus und keines der Bilder war identisch. Auf jedem Bild sah dieses Haus vollkommen anders aus. Ich dachte: Wenn man sehen lernen will, dann muß man zuerst lernen, wie ein Blinder sieht. In der Dunkelkammer spult man die Filme in der Finsternis ein. Die Leute wissen nicht, wie wichtig die Dunkelkammer für den Fotografen ist, daß er die Hälfte seiner Zeit nur dort verbringt. Man lernt dort das Fühlen. Man entwickelt dort nicht nur Filme, man entwickelt einen inneren Sinn.
Warum nicht die inneren Bilder nach außen kehren und mit Tinte auf Papier bannen? Wolfgang kannte mich. Er betrachtete den Elfenbeinturm von Ferne und mit Wehmut, das spürte ich. Wolfgang träumte vom Philosophenturm. Ich betrachtete ihn von Ferne und mit Wehmut. Der Philosophenturm war dem Elfenbeinturm sehr ähnlich. Unsere Türme machten uns so traurig, weil sie so hoch waren. In ihnen war die Luft so dünn. Wir sehnten uns nach den Hochburgen der Einsamen, obwohl wir doch nie mehr einsam sein wollten.
In unserem Leben gab es diesen seltsamen Widerspruch. Alles nur, weil er gesagt hatte, daß er unbedingt herausfinden wollte, was seine Berufung sei. Er glaubte an eine Berufung. "Wer ruft?", fragte ich ihn. Er sagte: "Es ist die innere Stimme, die mit Gott in Verbindung steht." Ich fing an, darüber nachzudenken. Ich wollte auch keinen Brotberuf. Ich wollte auf keinen Fall in einem Büro arbeiten, sondern eine Künstlerin sein. Diese Büros schienen mir große Gefängnisse zu sein. Ich wollte kein Sklave der Welt sein, lieber ein Sklave für Gott. Kein Geld der Welt hätte mir diese Freiheit aufwiegen können, die Freiheit, auf die innere Stimme zu hören. Man hätte mir die Suche nach dem Sinn des Lebens abgenommen und damit hätte ich mein Leben verkauft. Wolfgang hatte von Anfang an so gedacht. Er wollte kein Angestelltenleben. Er hatte einmal ein Praktikum in einer Krankenversicherung gemacht. Er sagte, er wolle niemals für einen Büroschlaf bezahlt werden. Er sagte, er wäre immer zwischen dem Ausfüllen der Formulare eingeschlafen. Er sagte, es gäbe da ein Flüstern in seiner Seele, eine Stimme, die noch undeutlich war - und dann ein Bild: Er sah den Philosophenturm. Es gab nur einen Unterschied in der Welt unserer Vorstellungen: den Philosophenturm gab es wirklich. Er war keine Metapher. Er stand auf dem Gelände der Hamburger Universität.
Immer noch saß ich mit angewinkelten Knien im Bett und fror. Zeit zum Aufstehen. Genug geträumt, genug gedacht. Ich hatte an diesem Hochzeitsmorgen mein ganzes Leben noch einmal an mir vorbeiziehen lassen. Ich wollte mir einen Reim darauf machen und fand keinen. Ich wußte nur, daß ich nicht mehr allein auf dem Weg war. Es war ein abenteuerlicher Weg. Es war immer noch die Straße des Regenbogens. Es roch nach herrlich teurem Kaffee. Ich hörte das Klappern des Deckels auf unserer kleinen Emaillekanne. An diesem späten Nachmittag würde Wolfgang nicht vor der Fotoschule auf mich warten, um mich abzuholen. Er würde dort nicht klingeln und meinen Lehrer begrüßen, der ihn immer einlud, auf einen Plausch hereinzuschauen. Heute würde er die alte Hochglanzpresse nicht bestaunen und mein neues Foto mit Spannung erwarten, um es dann mit mir gemeinsam auf Muschelbruch zu untersuchen. An diesem Tag war alles anders. Jeder Tag mit ihm war anders. Jeder Tag mit ihm war schön. Dieser Tag war der schönste Tag in meinem Leben. Warum? Ich stand auf und dachte: Shakespeare ist wirklich unsterblich!
Mit meiner Morgenwäsche macht ich ihm Konkurrenz. Ich stand mit den Füßen in der Zinkwanne und goß das Polarwasser aus der Kanne über den nackten Körper. Die Zähne klapperten unter der Gänsehaut. Die gelbe Farbe in diesem engen Zimmerschlauch, der alte Klokasten mit der altmodischen Kette zum aufziehen, der goldene Wasserhahn, alles sah so sonnig aus, aber ich schüttelte mich vor Kälte. Wolfgang hörte mich bibbern und brachte mir ein großes Badetuch. Er rubbelte den ganzen Körper ab, rieb mich warm, und dann wickelte er mich ganz fest ein. Ich fragte ihn: "Wo ist es kälter, am Nordpol oder am Südpol?" Er lachte und sagte: "Hier ist es am kältesten." Er zog mich ganz dicht an seinen Körper, rieb zart seine Nase an meinem Ohr, küßte meine Wangen, umschlang meine Hüften und dann verloren wir uns wieder in einem Kuß und schwelgten noch einmal in der Süße der Nacht. Mir war schwindelig, als wir uns wieder loslassen mußten. Der Kaffee war schon kalt. Warum immer wieder loslassen? Warum nicht für die Ewigkeit verschmelzen? Warum nicht für immer dort bleiben, in diesem Glück?
Er ging, um den Tisch zu decken. Er hatte sich so schön gemacht. Er trug seinen besten Anzug aus grünem Samt und eine große, weiße Seidenschleife zierte das nagelneue Smokinghemd. Aus der Jackentasche lugte ein weißes, ganz zart besticktes Taschentuch hervor. Es war ein Geschenk von mir, ein Andenken aus den ersten Tagen. Er hatte einen Sinn für diese Kleinigkeiten, die mir von Bedeutung waren. Also putzte ich mich auch ordentlich heraus. Ich bürstete immer wieder über das Haar. Es sollte auch so glänzen wie seines. Ich schlüpfte in mein Hochzeitskleid und griff zum Parfum. Ich tuschte die Wimpern mit Konzentration, pinselte den Lidstrich und legte in feinster Variation drei Lidschattenfarben übereinander.
Als ich in den Flur ging, hörte ich ihn im Treppenhaus. Er wollte noch einmal kurz in die Telefonzelle, um mit seiner Mutter zu telefonieren. Es ging um den Brautstrauß. Wie oft hatte ich vor der Telefonzelle gestanden und durfte nicht mithören. Er hatte eine ganz genaue Vorstellung von diesem Strauß und ich durfte kein Wort davon erfahren. Es war sein Geheimnis. Er brauchte es immer noch, sein kleines Geheimnis, und das machte das Leben mit ihm so spannend.
Der Flur war pechschwarz und dunkel. Die Wände schluckten gierig das kalte Licht einer Neonröhre. Wolfgang hatte sich diesen Flur gewünscht. Er wollte herausfinden, wie die Menschen reagieren, wenn sie eine fremde Wohnung betreten und nicht gleich wissen, was sie erwartet. Er wollte erforschen, was dieses Dunkel auslöst. Er wollte ihnen die Spekulationen entlocken, alle Wünsche und Ängste, aber auch die Spannung erhöhen, was denn dahinter sei, hinter den Bewohnern, hinter dem Flur. Er wollte, daß die Besucher nicht gleich in unser Zimmer laufen. Er wollte sie durch einen kleinen Schock zum Staunen und zur Ruhe bringen. Das Experiment war gelungen. Die Leute standen im Flur, sahen sich erstaunt um, wunderten sich und begannen zu philosophieren, bevor sie die knallrote Küche oder unser Frühlingszimmer betraten.
Überall wurde jetzt in den Wohnungen mit Farben experimentiert. Die Progressiven hatten keine weißen Wände. Weiße Wände waren total out. Farben waren in. Die alten Tapetenmuster hatten abgedankt. Nur unsere alten Nachbarn ließen noch Blümchentapeten anrollen. Wir nannten uns nicht mehr Hippies. Wir wollten keinen Stempel mehr aufgedrückt bekommen und wir wollten in unserem Denken keine Schubladen mehr: Klappe zu, Affe tot! Diesen Satz hörte man immer öfter. Der Krieg in Vietnam tobte immer noch. Die langen Haare erregten kein Aufsehen mehr. Sogar der Fernsehsprecher trug schon lange Elvis-Koteletten und dem Fernsehkommissar wuchs das Haar auch schon über den Kragenrand. Wir nannten uns einfach nur noch progressiv, und niemand wußte, wo das hinführte: Open end!
Aber eine echte Hippiehochzeit unter freiem Himmel, das war immer noch der Knüller! Unter freiem Himmel und so frei wie Alexis Sorbas: damit Gott uns besser sehen kann! Der Traum vom himmlischen San Francisco war noch nicht ausgeträumt. Einige Hippie-Kommunen entwickelten sich zum Freistaat. Wir waren alle auf der Suche, das ganze Leben war ein einziges Experiment. In Amerika hatten James Taylor und Carly Simon eine große Hippie-Hochzeit gefeiert. Sie hatte auch so ein Hippie-Bauernkleid getragen. Es hatte Blumen geregnet und alle hatten getanzt und gelacht und mit Blumenkränzen im Haar Musik gemacht. Wir sahen diese bunten Bilder in den Illustrierten und dachten, es sei im schönen alten Verona gewesen. So eine Hochzeit hatten wir uns auch gewünscht, nur ganz im Geheimen, still und leise. Wir wollten im Alltag untertauchen und den Alltag heilig machen.
Unsere Hochzeit war eine geheime Hochzeit. Nur wenige Menschen durften etwas davon wissen. Mein Vater sollte von dieser Heirat nichts erfahren. Mein Vater war ein böser König, der jeden Freier vor ein unlösbares Rätsel stellt. Kein Prinz war ihm gut genug. Er wollte sie alle die Treppe hinunterwerfen, um ihnen das Genick zu brechen, das hatte er mir immer gesagt. Meinen Wolfgang haßte er besonders, weil er ein langhaariger Träumer und nicht der Sohn eines reichen Fabrikanten war. Seine Kaste paßte ihm nicht. Mein Vater war der Vater von Julia, ein Capulet. Am liebsten hätte ich ihm jeden Tag die Kopie eines Briefes geschickt, den Brief von Franz Kafka, den Brief an den Vater. Ein Brief, der den Adressaten niemals erreicht. Ein Brief, von so vielen Söhnen und Töchtern unterschrieben, der aber immer nur von den guten Vätern gelesen wird. Wir waren vor meinem Vater geflohen. Wir hatten uns in unserem Nest versteckt. Er war uns schon dicht auf den Fersen. Dieser Tag war der Tag meiner heimlichen Hochzeit. Romeo und Julia war wirklich ein Drama.
In der Ecke des Flurs lagen eine Matratze und eine kleine Bongotrommel. Dieser kleine Schlafplatz gehörte unserem Freund Christoph. Wir hatten ihm diesen Unterschlupf gewährt, bis er eine eigene Wohnung finden würde. Es lag schon eine in Aussicht. Er war schon zur Arbeit gegangen. Christoph war unser bester Freund, ein brandneuer Freund, einer, mit dem man Pferde stehlen konnte.
Er hatte jetzt diesen Job im Plattenladen. Seitdem er dort arbeitete, kauften die Leute wie verrückt. Es war schon seltsam gewesen, wie wir ihn kennengelernt hatten. Auf dem Weg über die Lange Reihe hatte ich noch zu Wolfgang gesagt, daß es schön wäre, wenn wir einen neuen Freund finden würden. Nicht einen von meinen oder seinen alten Freunden, sondern einen brandneuen Freund. Ein echter Freund wäre kostbar. Da sagte Wolfgang zu mir, daß so ein Freund unser Leben perfekt machen würde. Dann hätten wir alles, was ein Mensch nur braucht. Wir stellten fest, daß wir in Hinsicht auf die Freundschaft zu hohe Ansprüche stellten. Ich sagte: "In Wahrheit habe ich nur einen einzigen, wirklich guten Freund, auf den ich mich immer verlassen kann. Ich habe dich." Er grübelte vor sich hin und sagte dann: "Ich habe auch nur dich. Es ist wahr. Es fehlt uns ein neuer, gemeinsamer Freund."
In diesem Moment kam mir eine Zeile aus einem Song von den Doors in den Sinn: "I need a brandnew friend in the end." Ich betrachtete Wolfgangs Profil, während wir ganz allein durch die Nacht liefen. Die Straßenlaternen beleuchteten sein Gesicht. Es war so schön. Die Doors kreisten in meinem Kopf. Ich sang ganz laut los, ließ das Gefühl heraus, ließ mich einfach gehen. Ich sang: "Hello, I love you". Das Lied wurde ganz lebendig. Ich trug die Tasche mit der Kamera mit mir herum und sang nur für ihn. Er freute sich wie ein Schneekönig, dann sang er mit und wir tänzelten durch die Lange Reihe, als wäre sie ein Ballsaal. Wir sangen im Duett: "Hello, I love you, want you tell me your name. Hello, I love you, let me jump in your bed."
Eigentlich wollte ich nur ein Nachtfoto machen. Ein Nachtfoto verlangte viel Geduld und eine lange Belichtungszeit. Nur mein Wolfgang hatte diese Geduld, mit mir in der Nacht auf Motivsuche zu gehen. Er stand immer neben dem Stativ und lauschte dem Summen des Selbstauslösers. Er konnte sich ganz still für meine Arbeit begeistern, stellte manchmal eine Frage, aber das Zuschauen machte ihm am meisten Freude. In dieser Nacht wollte ich ein Foto im Spielsalon machen. Ich wollte die Streiflichter einer Flipperkugel einfangen, die Kamera mitziehen. Ich wollte die Flipperkugel in voller Aktion und das Leuchten des bunten Lichts auf ein Dia bannen.
Unser Lied war verklungen, als wir die Spielhalle betraten. Ich ging zum Aufseher und bat ihn höflich um die Erlaubnis für ein Foto. Der Mann schrie sofort los: "Keine Fotos! Raus hier!" Er fuchtelte mit den Armen vor meinen Augen herum. Wolfgang legte schützend den Arm um mich. Es gab eine laute Diskussion. An einem der Flipper stand Christoph. Sein Portrait erinnerte an ein Gemälde von Raphael, umrahmt von einer Pop-Art-Landschaft. Er ließ die Kugel im alten Supermann-Flipper einfach fahren und mischte sich ein, sagte dem Aufseher, daß er gesehen hätte, daß diese junge Dame ganz höflich um Erlaubnis gefragt hätte, warum er denn so unfreundlich sei. Mit dem Mann war nicht zu reden. Darauf verließ Christoph mit uns gemeinsamen aus Protest das Etablissement. Er rief dem Mann noch hinterher: "Mit dieser Haltung verliert man seine Kunden. Mich haben Sie gerade verloren!"
Eine Weile standen wir verlegen vor der Tür, aber dann lud Christoph uns in den Wienerwald ein. Er wollte mit uns ein Weißbier mit Zitrone trinken. Er sagte, es würde ihn freuen, denn er fände uns nett, wir könnten Freunde werden. Bald wußten wir: Er war witzig und intelligent, ließ sich begeistern und konnte zuhören, aber auch besinnlich sein. Er war der brandneue Freund, der uns gleich nach dem Aussprechen unseres Wunsches über den Weg gelaufen war. Zufall?
Wir fuhren ihn in unserem Auto nach Hause. Unser Auto war winzig klein. Er wollte eigentlich nur seinen Plattenspieler und seine Matratze in unser Auto packen, um dann bei einem Freund zu übernachten. Er sagte, er sei in der Klemme, und dann erzählte er uns die ganze Geschichte. Er wollte ausziehen, denn er hatte Ärger mit seiner Mutter, weil er das Abitur geschmissen hatte. Er war aus dem Internat geflogen, wegen eines kleinen Buches, das der Lehrer bei ihm gefunden hatte, dessen Inhalt Christoph aber schon lange vergessen hatte; diese Kinderei, die ihn im nachhinein so geärgert hatte. Er zeigte uns dieses Buch. Wir lachten. Jeder Freak in der Stadt besaß es. Die Buchseiten waren rundherum zerschnitten und ausgehöhlt. Im Innersten lag ein kleines und schon verschimmeltes Stück Haschisch, das ihm vor langer Zeit ein beweihrauchter Woodstock-Hippie auf einem Open-air-Konzert geschenkt hatte. Im Internat hatte man ihn einen Kinderverführer genannt. Man sagte, er ginge mit schlechtem Beispiel voran, er hätte kleine Kinder zu Drogen verführt, er sei ein Gangster und Dealer. Christoph war vollkommen niedergeschlagen. Er sagte, diese alten Spießer wüßten nicht einmal, wie man das Wort Haschisch ausspricht, sie würden dabei immer ins Stottern kommen. Sie wüßten auch nicht, was eine gefährliche Droge sei. Und das Schlimmste: Sie würden nicht einmal einen echten Junkie oder Dealer erkennen, nur wenn es zu spät sei. Was würde da nur in der Zukunft wirklich geschehen, was würde in diesen unaufgeklärten Zeiten aus den Kindern werden?
Christophs Mutter hatte den wilden Gerüchten geglaubt. Es wurden immer mehr und sie wollten den armen Christoph verschlingen. Voller Verzweiflung hatte er den Krümel Shit aus unserem Autofenster geworfen, während er bemerkte, daß seine Mutter sowieso schon lange in einer Krise sei, denn sie putze die Fenster, ein ganz schlechtes Zeichen bei ihr. Im Moment könne er mit ihr nicht reden. Christoph war traurig wegen des vermasselten Abiturs. Er sah traurig aus, dieser blond gelockte Engel mit der John-Lennon-Brille.
Er sagte, sein Vater könne sich um seine Angelegenheiten nicht kümmern, denn er sei zwar ein sehr kluger und interessanter Mann, ein berühmter Farbenpsychologe, der aber in den einfachen Dingen des Lebens nicht sehr bewandert sei. Es wäre immer sehr interessant gewesen, sich mit diesem Vater zu unterhalten, aber er hätte die Mutter einfach sitzen lassen, als sie mit ihm, dem kleinen Christoph, schwanger gewesen sei. Er sagte, der Vater hätte jetzt wohl keine Zeit, um ihm aus dem Schlamassel zu helfen. Er wäre mit seiner Familie und den ehelichen Kindern beschäftigt. Er wäre eben ein uneheliches Kind und uneheliche Kinder hätten es manchmal schwer.
Darauf zeigte er uns ein Buch. Sein Vater hatte es geschrieben. Ein Buch über die Farben aus psychologischer Sicht. Ein seltenes Thema. Christoph erwähnte den berühmten Lüscher-Test und sagte dann, es gäbe nur zwei Koryphäen auf diesem Gebiet: Herrn Lüscher und seinen Vater. Auf der Rückseite des Buches war ein Foto zu sehen. Christoph sah dem Mann auf dem Cover sehr ähnlich. In diesem Moment tat er uns leid. Es war klar, daß er dieses Buch immer mit sich herumtrug, daß er sehr daran hing. Wolfgang sah mich nur vielsagend an, als Christoph in die Wohnung seiner Mutter stiefelte, um seine Sachen zu holen. Wir mußten nicht lange darüber reden, wir waren uns sofort einig: Wir wollten ihm eine Chance geben. Als er zurückkam und die Matratze auf den Rücksitz stopfte, boten wir ihm einen Platz in unserer bescheidenen Hütte an.
Mein Blick ruhte lange auf dem zusammengerollten Federbett auf Christophs Matratze. Er lebte so still wie ein Mäuschen unter unserem Dach. Jeden Abend besuchte er seine Freunde, denn er wollte unser junges Glück nicht stören. An den Wochenenden fuhren wir manchmal mit ihm zusammen nach Büsum und dort lernten wir seine Freunde kennen, die bald auch unsere Freunde waren. Es waren ganz besondere, außergewöhnliche Menschen, die unser Leben bereicherten. Sie besuchten uns auch in unserem Nest und dann brachten sie immer große Pakete mit Nahrungsmitteln mit.
Wir lernten das Mädchen kennen, das Christoph heimlich liebte. Sie wurden immer rot, wenn ihre Blicke sich trafen. Sie wurde von allen nur Kille genannt. Wir liefen oft zusammen am Deich entlang, saßen im Tonnenhof vor dem Leuchtturm, um mit unserem Freund Rainer den Zarathustra zu studieren, ein Buch, das er auswendig gelernt hatte. Er hatte eine blonde Löwenmähne und ein schönes und interessantes Löwengesicht. Rainer wollte nach Berlin, um Schauspieler zu werden. Er übte unermüdlich für die große Prüfung in der Schauspielschule. Voller Leidenschaft rezitierte er den Text, aber manchmal hielt er inne und grübelte: "Muß man dieses Buch eigentlich gelesen haben?" Wir wußten es nicht. Die Idee vom Übermenschen schien uns ein wenig abwegig. Und konnte man Gott einfach für tot erklären? Dennoch faszinierte uns die Sprache in diesem Buch. Einige Sätze bewegten mich und einige Variationen dieser Sätze gruben sich fragmentarisch, aber tief in das Gedächtnis und ich vergaß sie nie: "Aus tiefem Schlaf bin ich erwacht, tiefer als der Tag gedacht. Die Welt ist tief. Und alle Lust will Ewigkeit? "Gustav Mahler hatte die richtige Musik dazu gefunden. Welch ein Klang! Das Buch gab uns Rätsel auf und so machten wir uns Gedanken über Gott und die Welt. An den Abenden waren wir dann Gäste in der Haifischbar.
An den Sonntagabenden hörten wir oft mit Christoph Musik. Manchmal unterhielten wir uns angeregt oder wir saßen einfach nur zusammen und meditierten vor einem Kerzenlicht. Eigentlich wollten wir ihm ein gemütliches Bett in der Küche herrichten, aber der Platz reichte einfach nicht. Unser Taubennest war zu klein. Aber nun hatte er schon eine Wohnung in Aussicht und das Problem war gelöst. Ich betrachtete Christophs Bongotrommel, auf der er so oft spielte. Mein Blick haftete wohl eine Ewigkeit an der Matratze im Flur. Ich dachte: An jedem Ding hängt eine Geschichte!
Auf dem roten Küchentisch stand die Milchkanne, ein altes Fossil. Ich liebte Milchkannen. Als Kind hatte ich so gern damit gespielt. Jeden Morgen lief ich zum kleinen Milchladen auf der anderen Straßenseite und kaufte frische Milch und Butterkäse. Dieser Laden war der letzte Krämer in der Stadt, der noch Milch aus dem Zapfhahn verkaufte. Die kleinen Läden lagen im Sterben. Die großen Konzerne wurden immer mächtiger. Überall wuchsen die Supermärkte wie Pilze aus dem Boden. Milch gab es dort in Plastikschläuchen, die immer platzten. Diese Milch schmeckte immer etwas seltsam, ein wenig bitter. Neben der Milchkanne saß ein rotes Sandsacktier, mein kleiner Wutteufel. Sein Kopf war auf den schweren Bauch gesunken. Wolfgang hatte ihn eines Tages mitgebracht, weil die Teller in unserer Küche rar wurden. Meine Wutausbrüche hatte ich immer nur in dieser roten Küche gehabt. Wolfgang hatte in dem Buch von Christophs Vater eine interessante Entdeckung gemacht. Die rote Farbe machte wach und munter, sie ließ aber auch die Wut aus ihrem Versteck kommen. Aus diesem Grund hatte er mir den roten "Schmeißi" gekauft, so hatte er ihn genannt. Mein Wolfgang hatte ihn mir ans Herz gelegt. Er wollte, daß ich meine Wut in diesen roten Teufel packe und mit aller Kraft an die Wand werfe. Das machte kaum ein Geräusch. Er hatte es mir vorgemacht. Er wollte ihn auch benutzen. Wir hatten ihn gemeinsam an die Wände geworfen und dann in unserer Wut gelacht.
Meine Wut verwandelte sich bald immer mehr in ein Lachen. Bald war sie total verraucht, weil ich das kleine Teufelchen zu lieben begann. Ich konnte es nicht mehr an die Wand werfen. Ich entwickelte Mitleid mit ihm und lernte, die Wut unter Kontrolle zu haben. Jetzt saß der kleine Teufel immer bei meiner Milchkanne und begrüßte mich wie aus alten Kindertagen. Meine Wutausbrüche hatten einfach aufgehört, viele Tage vor meiner Hochzeit.
Ich nahm meinen kleinen roten Teufel und gab ihm einen Kuß. Der kleine Teufel war in Wirklichkeit ein Frosch, mein verwunschener Prinz. Mit einem Kuß hatte Wolfgang mich verzaubert und nun war ich erlöst. Dornröschen war aufgewacht! Der kleine Prinz hatte mich wach geküßt. Die alten Dornenhecken erstickten jetzt nichts mehr. Ich betrachtete die roten Wände. Sogar der Kühlschrank war rot. Es war die Lieblingsfarbe meiner Kindertage. Alle Kinder mochten diese Farbe: Rot. Alle Kinder sehnten sich nach Liebe. Ich warf einen Blick aus dem Küchenfenster, sah die grauen Winterwände auf der anderen Straßenseite. Ich war so stolz auf mein Nest. Mein Nest war größer als alle Königreiche dieser Welt. Meine Küche leuchtete im roten Licht der Liebe. Mein Prinz war so warmherzig. Sein Blut war blau wie Tinte, reiner Geistesadel!
Die Zeit raste dahin. Ich schnappte mir die Milchkanne und warf mich in aller Eile in den schwarzen Maximantel mit den Silberknöpfen. Ein langes Hochzeitskleid braucht einen langen Mantel. Im Treppenhaus roch es wie immer nach Kohlsuppe. Es roch auch ein wenig unterschwellig nach Sauerkraut und alten Strümpfen. Es war immer der gleiche Geruch, Tag für Tag. Es roch niemals nach frischer Wäsche oder Kindern. Es roch auch nicht nach Bohnerwachs, obwohl die Treppen doch so gut gebohnert waren, daß man immer ausrutschte. Nur meine Treppe glänzte nicht. Ich wußte einfach nicht, wie die Alten das machten. Wenn ich sie danach fragte, dann rümpften sie nur die Nase. Es war immer diese Beschwerde, die sie triumphieren ließ: Meine Treppe glänzte nicht!
Ansonsten waren die Alten ganz in Ordnung. Sie waren so gut wie durchsichtig. Sie grüßten niemals zurück und manchmal versuchten sie mit dem Besenstiel unsere Tauben zu vertreiben, aber das ließen wir nicht zu. Ich hörte die großen Standuhren in ihren Zimmern ticken. Nur einmal hörte ich einen Ruf in diesem Treppenhaus: "Die Gören haben ja für nichts mehr Zeit. Die stecken uns nur noch ins Heim. Wir bleiben hier. Hier ist es allemal besser als in jedem Altersheim." Dieser Ausspruch den Kindern gegenüber war schon richtig, aber sie waren auch ganz schön verbohrt. Mit Romeo und Julia wollten sie nichts mehr zu tun haben. Wie oft hatte ich mir hier einen Kinderwagen im Treppenhaus gewünscht, ein wenig Trubel aus Italien. In diesem Treppenhaus gab es keinen frischen Wind.
Im Hausflur waren die Mülltonnen voller Scherben. Das Gewitterkrachen des zerschellenden Porzellans an unserem Polterabend war der aufregendste Lärm in meinem ganzen Leben gewesen, aufregender als ein großes Feuerwerk. Dieser Polterabend war ein schönes Fest gewesen. Christoph hatte auf unserem Bett gesessen, strahlend und glücklich, Kille im Arm. Luftballons schwebten über den Köpfen der tanzenden Freunde, sie tanzten immer um den Schaukelstuhl herum. Rotweinbecher machten die Runde und die ganze Zeit lag die gute Stimmung in der Luft. Am Ende lagen sich die Pärchen in den Armen, tanzten leise in den Flur, tanzten im Kreis um uns herum. Zum Schluß tanzten wir zu einem ganz leisen Lied von Rod Stewart: "Seems Like A Long Time""
Der letzte Gast, unser Freund Holger, leicht beschwipst, immer noch das Sektglas in der Hand - der lange Schal hatte sich irgendwie in seinem Anzug verheddert - hielt zum Abschied eine seiner berühmten Reden im Gehen. Er rief Gottes Segen über unser Haus, sprach von all der Liebe und dem Glück, das er hier spürte. Am Ende hatte er wieder den Faden in seinen kunstvoll verschlungenen Wortkonstruktionen und komplizierten Gedankengebäuden verloren. Er stand in der Tür, drehte sich noch einmal um und sagte mit seinen glänzenden, schönen Augen: "Heute haben wir es geschafft. Heute ist es wahr geworden: Love and Peace!" Der schöne Holger hatte die richtigen Worte gefunden. Ich war ihm dankbar für diese Worte. Sie klangen noch immer in mir nach. Ich ging aus dem Haus und jeder Schritt, den ich machte, war ein Schritt in das Glück.
Der Himmel war seltsam grau. Die Bäume waren schwarze Scherenschnitte, gespenstisch schön! Diese Straße war wirklich eine Idylle, auch wenn die Kastanienbäume nicht in ihrer vollen Blüte standen. Die schiefen Hauswände zeigten ein Lächeln in den von Blättern umrankten Gesichtern aus dem Jugendstil. Nur der alte Bunker störte das Straßenbild. Ein Monstrum aus dem Krieg. Er war uns immer unheimlich. In diesem Gebäude hockte immer noch eine uralte Angst. Wolfgang hatte oft zu mir gesagt, daß dieser Bunker ein idealer Ort für die Musik wäre. Vollkommen Schalldicht! Musik und Kunst könnten die alte Angst dort vertreiben. Christoph ersehnte sich den Bunker als Übungsraum, denn er machte mit seinen Freunden Musik.
Ich lief mit meiner Milchkanne über die Straße und dann klönte ich mich in dem Milchladen fest. Die Verkäuferin erzählte mir von ihrer Schwester, aber dann stutzte sie in ihrem Redeschwall. Sie fragte mich, warum ich denn so festlich gekleidet sei. Voller Freude sagte ich: "Heute ist ein ganz besonderer Tag. Heute heirate ich". Sie wollte unbedingt mein Hochzeitskleid sehen und ich knöpfte den Mantel auf und drehte mich im Kreis. Ich tanzte wie ein Sufi im Milchladen und die Verkäuferin klatschte vor Freude in die Hände. Mein Wolfgang stand vor dem Schaufenster und drückte sich die Nase platt. Er kam herein, lachte und rief: "Frauen unter sich!" Er nahm meine Hand und sagte: "Ich habe viel zu viel Zeit in der Telefonzelle verbracht und du willst jetzt tanzen. Dafür ist später noch Zeit. Der Standesbeamte wartet nicht ewig auf uns." Er winkte der Milchfrau zu und zog mich lachend aus der Tür. Die Milchkanne hatte ich vergessen.
Er zog mich ganz schnell die Treppe herauf, denn er wollte noch seinen Füller suchen. Er wollte das Heiratsdokument unbedingt mit seinem eigenen Füller unterschreiben. Das Suchen nach dem Füller fand ich einfach rührend. Dieser Tag machte mich ganz sentimental. Eine ganz kleine Träne kullerte über mein Gesicht, denn ich wußte: Die Tinte seines Füllers war wie sein eigenes Blut!
Auf der Fensterbank in der Küche lagen seine handgeschriebenen Seiten in Stapeln aufeinander. Er schrieb gerade über die Geschichte der amerikanischen Verfassung. Er sagte, er hätte gerade den Philosophen Spinoza entdeckt, eine einfache und schöne Philosophie, die er den einfältigen Wirtschaftsphilosophen entgegenhalten könne. Er konnte die Philosophie der Wirtschaft nicht mehr schlucken. Immer öfter trug er einen Wollschal um den Hals, wenn er vom Wirtschaftsgymnasium nach Hause kam. Manchmal stand er ganz traurig in der Tür und sagte: "Sie haben mich heute einen Humanisten genannt. Das ist bei ihnen ein Schimpfwort. Stell dir das vor!"
Der Kampf war schon lange eskaliert. Der Lehrer hatte ihm vor einiger Zeit einen Schlüssel an den Kopf geworfen und Wolfgang warf ihn zurück an die Tafelwand. Wolfgang hatte die falschen Fragen gestellt. Er fragte nach dem Verbleib der giftigen Industrieabfälle, der Entsorgung der Chemikalien. Er fragte, warum der Mensch in ihren Statistiken nur eine Nummer sei, nur noch ein Arbeitstier oder ein Konsument. Konnte man sich nicht ein paar Gedanken um die Zukunft machen, den Arbeitsplatz angenehm gestalten, die Ware mit gutem Gewissen verkaufen? Warum machte man sich keine Gedanken um die nachfolgenden Generationen? Die Antwort war, daß man hart daran arbeiten würde, ihn durch die Prüfung fallen zu lassen. Sie würden ihn schon austricksen, auch wenn er im Moment noch gute Zensuren hätte. Mein Wolfgang schrieb und lernte fleißig, obwohl er wußte, daß sie den Kampf gewinnen würden. Sie saßen am längeren Hebel. Wolfgang wollte so gern diese Prüfung bestehen, denn er wollte zuerst Wirtschaft studieren, um dann das Fach zu wechseln.
Auf der Fensterbank lag auch die Traumdeutung von Sigmund Freud. Es war immer noch das gleiche Taschenbuch, das er mir in sternklarer Nacht an der Alster gezeigt hatte. Unter diesem Buch lagen noch andere Schriften von Sigmund Freud, die er eingehend studierte. Wenn er in diesen Büchern las, dann blickte er oft auf und einmal sagte er: "Wenn man Psychoanalytiker werden will, dann muß man Medizin studieren. Ich kann kein Blut sehen. Sigmund Freud wollte eigentlich auch nicht Medizin studieren, aber er hat es getan, weil er so verliebt war. Er wollte sich ein Nest bauen. Seine Frau kam aus Hamburg-Wandsbek, wußtest du das? Dort habe ich meine Kindheit verbracht und du hast ja auch nicht weit entfernt von dort gewohnt. Sie hat also ganz in unserer Nähe gewohnt, ist das nicht schön? Vielleicht kann man mit einem Psychologiestudium auch eine Lehranalyse machen. Ich muß mich erkundigen. Ich muß mich unbedingt erkundigen! Wir werden sehen."
An diesem Tag ließ er die Bücher liegen. Wir hatten den Kaffee aufgebrüht und er hatte seinen Füller gefunden und in die Jackentasche gesteckt. Wir aßen in aller Eile unsere Käsebrötchen. Er sah mich zärtlich an und sagte: "Heute müssen wir nicht in den Abendstunden zur Tankergesellschaft fahren und putzen gehen. Heute sind wir nicht die Exoten in Frau Schleus Truppe. Sie ist so lustig. Ich werde sie vermissen. Heute stolpert sie nicht über den spitzen Stein. Heute werde ich nicht die Bohnermaschine durch die Flure lenken und du mußt keine Aschenbecher leeren und kein Waschbecken scheuern. Heute wird dein hübsches Gesicht nicht fahl von Asche sein. Heute arbeiten wir uns nicht hoch bis in die Chefetage." Ich lachte ihn an und antwortete: "Ich bin aber trotzdem froh, daß wir uns mit dem Geld so gut über Wasser halten können."
Er sah mich strahlend an und fuhr dann fort: "Das ist richtig. Aber heute wird gefeiert. Heute wird sich der Standesbeamte wundern, daß zwei Schüler vor ihm stehen. Er wird sich wundern, daß du keinen dicken Bauch hast und er wird sich fragen, warum diese Kinder denn heiraten wollen. Es gibt nur eine Antwort auf diese Frage: Aus Liebe! Da wird er glücklich sein. Heute ist sein großer Tag. Heute spielt er endlich eine Rolle in einem großen Stück: Romeo und Julia, aber live on stage!"
Beim Goldbekplatz stiegen wir in die letzte Linie der alten Straßenbahn. Überall hatten sie schon die Schienen aus den Straßen gerissen. Überall fuhren nur noch Busse. In ganz kurzer Zeit würde diese Straßenbahn für immer verschwunden sein. Wir saßen ganz still nebeneinander auf den alten Holzstühlen und die Straßenbahn fuhr um die große Kurve beim Spielplatz. Sie fuhr ganz langsam in tanzende Schneeflocken hinein. Die dicksten Schneeflocken taumelten vom Himmel. Die Bahn fuhr in das große Weiß, ein einziges Schneegestöber. Alle Geräusche waren plötzlich gedämpft. Deutschland hatte sich ganz plötzlich in ein Wintermärchen verwandelt.
Es war der erste Schnee des Jahres. Ich dachte nur: "Jetzt bekommst du am Ende noch eine weiße Hochzeit. Gott selbst hat sie weiß gemacht." Als wir vor dem Standesamt ausstiegen, da war mein schwarzer Mantel weiß geworden. Wolfgangs grüner Samtanzug war auch weiß. Meine Schwiegermutter stand auf der Treppe und überreichte mir den Brautstrauß. Er hatte die Form eines großen Herzens. Exotische Bauernrosen in der Farbe des Flieders, von blauer Iris umrahmt. Es war kein kitschiges Herz, es war rund und organisch. Es war lebendig. Er hatte meinen Namen in diesem Herzen verewigt!
Der Standesbeamte stand im feierlichen Talar vor uns. Der ganze Raum war mit Kerzen und Blumen geschmückt. In der Dunkelheit des Schneegestöbers erschien mir dieser Raum im Kerzenlicht so mystisch wie eine Kapelle zu sein. Der Standesbeamte hatte nur einen Arm, dennoch waren seine Bewegungen voller Anmut und Würde. In seinem Gesicht war eine stille, feierliche Freude. Er hielt eine Rede, die man sonst nur in der Kirche hört. Wir gaben uns das Jawort in guten und in schlechten Tagen, die da kommen würden. Wir schworen uns Treue auf dem gemeinsamen Weg in die Zukunft. Am Ende hörten wir die Worte: "Bis daß der Tod euch scheidet." In diesem Augenblick schluchzte meine Schwiegermutter laut auf. Wolfgang sah mich an. In diesem Augenblick hatten wir den gleichen Gedanken. Wir hörten das Weinen. Es war das Weinen der Montagues und es war das Weinen der Capulets. Es waren die Tränen der ganzen Welt. Es war der Schmerz der Trennung, der in der Zukunft lag. Es waren die Tränen einer Mutter über den verlorenen Sohn. Es waren die Tränen des Himmels über der Straße des Regenbogens. Der Tod stand nicht mehr hinter dem Vorhang. Ich konnte ihn erkennen. Die alten, biblischen Worte hatten ihn sichtbar gemacht. Ich erkannte die große Rolle, die er spielte. Er machte sich schon auf den Weg. Schritt für Schritt. Er lief mit der Zeit um die Wette. Eros stellte sich ihm entgegen und wollte die Ewigkeit.
Am Ende würden sich die Gegner in die Arme fallen und sich versöhnen, Eros und Thanatos, die Zeit und die Ewigkeit, die Liebe und der Tod. Am Ende stand das große Rätsel, das Unbekannte mit dem Namen Gott. Ich sah diesen Tod. Ich sah diese schwarze Gestalt im weißen Schnee. Ich sah ihn als Scheidungsrichter. Ich hätte ihn in all seinen Rollen ertragen können, nur nicht in dieser.
2.43 Uhr. Ich sitze hier und schreibe. Es ist spät geworden. Es ist spät nach Mitternacht. Es hängen so viele Erinnerungen an meiner Hochzeit und an meinem Nest, daß ich sie in einer Kurzgeschichte nicht alle erzählen kann. Jede Wohnung braucht einen Roman. Ich erinnere mich noch an den Film im Kino, den wir nach unserer Trauung gesehen hatten: Pongo und Perdita. An diesem gewöhnlichen Nachmittag lief nur dieser Disney-Film und wir wollten unbedingt ins Kino gehen. Zwei Stunden lang erlebten wir noch einmal das Glück der Kinder. Ich erinnere mich noch an die Hochzeitsnacht. Sie war eine Nacht voller Zauber und das Erwachen am nächsten Tag war noch schöner als das Erwachen am Tage zuvor. Diese Steigerung des Glücks hätte ich niemals für möglich gehalten, obwohl Wolfgang mir in der Straßenbahn ins Ohr geflüstert hatte, daß er es für möglich hielt.
Ich erinnere mich: Da lebte noch ein kleines, weißes Meerschweinchen mit uns, das immer vor dem offenen Kühlschrank Männchen machte und fiepte, weil dort frische Salatblätter zu finden waren. Es schlief immer in unserem Schoß. Da waren noch so viele Menschen, die mit uns auf dem Wege waren, deren Wege sich in dieser Wohnung kreuzten. Es gäbe so viel über sie zu erzählen. Eine Wohnung voller Bindungen und Verbindungen. Knotenpunkte, die sich irgendwann auflösen.
Ich bin noch einmal in diese Straße gefahren. Sie ist nach einem Baumeister benannt: Kuhnsweg. Ich stand noch einmal in diesem Treppenhaus. Fünfundzwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ein Vierteljahrhundert! Die Straße ist immer noch so schön und so friedlich. Die Kastanien stehen in ihrer Blüte. Ich war zu Pfingsten dort und habe den Ort meines Schreibens aufgesucht, den Ort, an dem ich mich im Moment jede Nacht in Gedanken aufhalte. So schreibe ich mich durch das Jahr.
Was hat sich in dieser Straße geändert? Die Sonne schien. Alles war im Licht. Meine Mutter hatte mich begleitet. Der Spielplatz ist noch größer geworden. Die Straßenbahn gab es schon bald nach unserer Hochzeit nicht mehr. Im Bunker findet die Sinfonie der Sinne statt. Ein großer roter Teppich führt nun dort hinein. Im Bunker gibt es jetzt Kunst und Musik. Der rote Teppich saugt das Blut des Krieges endlich auf. Ich stand vor dem Bunker und weinte.
Der Bäcker hat den Ort mit uns zur gleichen Zeit verlassen. Ihn gibt es auch schon lange nicht mehr. In unserem Haus spielen jetzt die Kinder. In unserem Hausflur stand ein Kinderwagen und überall sah man junge Leute mit langen Haaren. Es riecht dort nach frischer Wäsche. Die Tauben sind noch da. Sie gurren über dem Kuppeldach, einer kleinen Glaspyramide, die man dort angebaut hat.
Aus unserer alten Wohnung schimmert ein sanftes, mystisches Licht durch ein grünes Pergamentpapier, es hängt vor dem alten Glasfenster. Ich stand als Fremde in diesem Treppenhaus, aber vor der alten Wohnungstür spürte ich die alten Schwingungen noch, den Frieden und das Glück.
Die Tränen unter dem weißen Brautschleier vermischen sich mit den Tränen unter dem schwarzen Witwenschleier. Die großen Gefühle werden symbolisch hinter Schleiern verhüllt. Schutzraum !
Meine Mutter stand die ganze Zeit vor den Namensschildern an der Haustür. Sie rief mich herbei und staunte: "Sieh nur, da steht euer Name an der Tür." Es war ein nagelneues Namensschild. Unser Name wird in diesem Haus weiter getragen. Daneben war der Name Hein zu finden. Der Gevatter findet in diesem Haus auch einen Namensträger. Er wohnt überall. Ich stand neben meiner Mutter vor den Klingelknöpfen und weinte wieder. Die Erinnerungen wurden an diesem Ort noch lebendiger. Die Gefühle rollten wie eine große Flutwelle durch meine Seele. Trauerarbeit!
Am Ende der Straße gab es ein neues Restaurant. Hier war alles spanisch. Wir haben dieses Land und seine Kultur sehr geliebt. Die Möbel in meinem Arbeitsraum sind aus Spanien. Sie sind noch aus massivem Holz und sie sind einfach und schlicht. Ich saß mit meiner Mutter unter den Lindenbäumen. Wir hörten die Klänge einer spanischen Gitarre. Wir haben den Flamenco so geliebt! Ich saß mit meiner Mutter dort an einem der Tische im Freien. Wir sahen auf das kleine, alte Fabrikgebäude. Die Sonne schien uns ins Gesicht.
Ich sprach mit meiner Mutter darüber, wie sehr sich unsere Sehnsucht nach Frieden in dieser Straße verwirklicht hat. All unsere Wünsche und Träume sind Wirklichkeit geworden. Der Frieden wohnt in dieser Straße. Die Taube hat dort immer noch ihr Nest.
Meine Mutter sah meine Tränen. Sie zeigte mit dem Finger auf das Schild, das über unseren Köpfen hing. Sie fand es magisch, dieses Wort, das da geschrieben stand. Es war der Name des Cafés, in dem wir saßen: Zeitlos!