Jede Nacht hatte ich den gleichen, in vielen Variationen sich wiederholenden. Traum: Ich stand da ganz allein mitten in einer Steinwüste. Der Wind pfiff durch mein dünnes Gewand. Kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze weit und breit. Nur Steine, Wind und Einsamkeit. Ich durchstreifte diese öde Seelenlandschaft ohne Erwartung und ohne Ziel. Da erblickte ich in der Ferne Jesus Christus, den Mann ohne Schatten. Sein langes Haar wehte im Wind, die Jünger standen ein wenig entfernt, umringten ihn im Halbkreis. Er kam auf mich zu, die Jünger folgten ihm. Er bückte sich und begann die Steine zu bewegen, wälzte, rollte sie vor sich hin, erklärte mir den Sinn. Grünes Moos auf schwarzem Stein, wie Buchstaben auf Papier. Der Ursprung des Lebendigen lag im Stein. Der Uranfang, die verdichtete Zeit. Zeitspeicher, Schwere, die ins Rollen gebracht werden will. Wälze den Stein! Jeder Stein hatte seinen eigenen Ort und prägte ihn. Es gab den leichten Sandstein, der rieselte mit dem Wind, den vertafelten Schiefer, glänzenden Marmor und den widerspenstigen Feuerstein. Jeder Stein wurde gerollt, betrachtet, erklärt, von seinem Standort und von seiner Geschichte befreit. So wurden die Steine lebendig. Jede Nacht begann der Traum von neuem, und jedes mal waren es andere Steine, die meine Seele aufsprengten. Warum war mir das Wesentliche im Unwesentlichen nicht vorher aufgegangen? Der Stein, der da ruht, ist die Schwere meines Herzens. Ihn muß ich in Sprache übersetzen. Der Stein ist der Grabstein. Er bringt den Namen hervor, fordert Stille, führt ins Schweigen. Einen Monat lang studierte ich jede Nacht im Traum die Steine und sie brachten Fossilien und ein langsam sich entwickelndes Leben hervor. Da ich ein Dichter bin, kam ich auf den Gedanken, den Stein der Weisen zu suchen. Ich wollte ihn im Äther wälzen, damit er Wolke werde, lichter Wasserdampf, Essenz der Phantasie. Da begegnete ich Maren Däke. Die Wohnung über mir war frei geworden und sie zog dort ein. Wir begegneten uns im Treppenhaus. Der Zufall wollte es, daß sie eine Bildhauerin war. Als ich ihre Werke sah, schien es mir, als seien meine Träume Vision und Auftrag gewesen. Die Steine sollten im Geist verdichtet werden. Während ich über den Stein meditierte und ihn immer mehr verinnerlichte, setzte Maren ihm ihre ganze Körperkraft entgegen, um einen Dialog in Gang zu setzen. Dieser Dialog war ihr wichtiger als das fertige Kunstwerk. Sie erzählte mir von ihrem Meister, einem bekannten Bildhauer. Jedesmal, bevor sie ihre Arbeit begann, harkte er ihren Arbeitsplatz und hielt ihn rein, damit sie mit großer Andacht beginnen konnte. So handeln nur die Erleuchteten, die Demütigen, die Würdigen. Maren erzählte mir vom Eigenleben der Steine, ihrer Beschaffenheit, dem Werkzeug, das sie benutzte und von dem Steinbildhauersymposion in Mahabalipuram, einem kleinen Ort in Indien. Jeden Abend reflektierte der Abendhimmel das Gold der Sonne an Shivas heiligen Tempelmauern am Meer der Ruhe, Meer der Glückseligkeit. Sie ließ den Rohling sprechen, hörte auf seinen Klang, zitterte mit ihm, kerbte ihn, ließ ihn aufrecht stehen, so archaisch wie er war. Sie suchte nicht die schöne Form, wie viele indische Künstler es tun. Sie suchte das Wesen des Steines. Ein alter, ärmlich gekleideter Mann beobachtete sie bei der Arbeit, warf sich vor ihr nieder und brachte ihr Nahrung dar. Maren wußte nicht, daß man auf diese Weise in Indien einen Guru ehrt. Der Guru ist der Führer von der Dunkelheit ins Licht. Bei ihrer Arbeit achtete sie auf den Klang des Steines. Bei der Herstellung eines heiligen Lingams gibt der Klang Auskunft darüber, ob es sich um einen männlichen, einen weiblichen oder einen neutralen Stein handelt. Die Steine werden in vorgeschriebener Reihenfolge aufeinander gestellt. Klingt ein Stein nicht rein, so muß das ganze Werk von neuem begonnen werden.
Nach Vollendung eines Werkes bedarf es einiger Zeit, um zu reflektieren. Jeder Stein hat seine Geschichte. Zeit des Abschieds, Zeit der Trennung. Am Ende wird ein Foto gemacht. Ich betrachtete den Stein nur aus einem Blickwinkel, so wie ihn der Fotograf gesehen hatte. Irgendwann begann der Stein zu sprechen und ich schrieb es auf, goß ihn in eine andere Form, die Form der Sprache. Dreidimensionalität wäre mir zu viel gewesen. Ich wollte nur die schwarz-weiße Ein-sicht. Maren war erstaunt, als sie die Gedichte las, war es doch der gleiche Dialog, den sie bei ihrer Arbeit geführt hatte. Der gleiche Klang, die gleiche Musik. So gab ich den Steinen einen Namen.