Dieses Märchen, das ich nun erzählen will, beginnt und endet in Atlantis, dem sagenumwobenen Reich einer versunkenen Welt, kurz nach einer Zerstörung durch des Feindes Hand. Vielleicht geschah es auch im fernen Land einer vergangenen oder zukünftigen Welt, vielleicht auch hier, gestern oder morgen schon. Der Herrscher war tot und begraben. Die Minister waren ihm in Treue nachgefolgt, denn die Früchte ihrer Handlungen waren ebenso todbringend wie ein Becher voll Gift gewesen. Die Hoheprieser waren ihrer Ämter enthoben. Die Suche nach dem Stein der Weisen hatten sie aufgegeben. Nur die Hofastrologen hatten ihr Spiel gewonnen, denn sie hatten die Katastrophe mit all ihren Ausmaßen vorausgesehen und sich rechtzeitig von den Mächtigen losgesagt. In dieser kalten und dunklen Zeit lebte ein Weber mit seinem Sohn Kreolo in der Stadt. Kreolos Jugend war hart und bitter gewesen, dennoch hatte das Elend seiner Haupt nicht gebeugt. Die Liebe hatte sein Leid in Hoffnung verwandelt. Er war klein und schmächtig, aber voller Lebenskraft, so daß seine Augen hell aufblitzten. Seine Haltung war stolz und von unbeugsamen Willen geprägt, so daß jedermann glaubte, einen großen Mann vor sich zu haben und nicht den Sohn eines Webers. Das Ziel seiner Leidenschaft war all die Jahre die Tochter eines reichen Kaufmanns gewesen. Ihr haselnußbraunes Haar, die heiteren Blicke und ihr unkompliziertes Wesen hatten ihn verzaubert. In den schweren Zeiten hatte er sie jeden Tag besucht. Er hatte ihr Kornblumen vom Felde gebracht, selbstgemachte Karamellbonbons und kostbares Brot. Er hatte ihr Geschichten erzählt, die er selbst erdacht, damit sie die Not vergessen konnte. Sie liebte die Geschichte vom Eidechsenkönig, der sie beschützte. Dieser König war Kreolo. In den grauen, rauchverhangenen Tagen des Schreckens und der Hoffnungslosigkeit, half er Brände zu löschen und Verletzte aus den Trümmern zu bergen. Dabei hatte er oft dem Tode ins Antlitz schauen müssen, dessen Kriegsfratze ihn so sehr entsetzte. Er wollte nie mehr seinen kahlen Schädel erblicken, nie mehr von ihm reden hören! Wie gut taten die Abende bei der angebeteten Frau. Sie wärmte ihn wie eine kleine Katze. Doch wie unheilvoll verwandelte sich seine Liebe in Haß und Verachtung. Zeiten des Friedens waren gekommen und nahmen ihm die Liebe fort. Es gab kein reines Glück. Der Frieden war gewonnen, die Liebe verloren. Noch im Friedenstaumel, als er mit den anderen Menschen auf den Straßen tanzte, glaubte Kreolo, daß sich nun die Pforte des Paradieses öffnen würde, und er sah sich hindurchschreiten im Gewande des Bräutgams. Welche Abgründe taten sich auf, wie jäh wurde er aus seinen Träumen gerissen, als die nackte Wahrheit endlich ans Licht gekommen war. Es rieselte wie Asche auf sein Haupt, als er, um jedes Wort bedacht, um ihre Hand anhielt. Sie lachte ihn aus und wies ihn ab. Der Friede hatte ihre Illusionen genährt. Gedanken einer Hydra. Sie sah sich vermählt mit dem reichsten Manne der Stadt. Trompetenklänge, Seide und Schmuck, ewige Sicherheit. Keine Not, nie wieder Karamellbonbons. Berge von Taubenbrüsten sah sie in ihrem Schlaraffenland. Der Eidechsenkönig konnte nicht der Sohn eines Webers sein. Wer will für die Kinder sorgen? Mit den Fingern zeigt man auf die arme Frau des Webers. Gedanken einer Schlange, die zischte laut. Kreolo hielt sich den Kopf. Tage, Wochen und Monate vergingen, ohne daß sein Schmerz sich mindern wollte.
Ein Jahr verging, angefüllt mit Trübsal. Darauf folgte das zweite voller Bitternis. Als Kreolo gewahr wurde, wie sehr die Liebe den Menschen verletzen kann, da schwor er der Liebe ab. Ein feierlicher Eid, daß er seinen Kindern und Kindeskindern die Qual des Liebeskummers ersparen werde.
Zur gleichen Zeit lebte ein Flötenspielder in der Stadt, der war arm. Er hatte Vater und Mutter verloren und fühlte sich einsam und traurig in den staubigen Trümmern der Stadt, wie ein Maulwurf, von gefallen Engeln umgeben. Sehnsucht nach ein weinig Blau und Wolkenfetzen. Einmal in der Woche kam der Vormund, um zu sehen ob es ihm wohl erginge und ob er Fortschritte mache beim Flötenspiel. Der Vormund war sehr streng. In seinen Liedern aber, immer wenn er die Flöte spielte, besang er die Mutter. Als er einmal recht traurig war, sah er auf dem Markt eine junge Bauerntochter Eier verkaufen. Sie hatte die gleichen guten Augen wie die Mutter. Er folgte ihr und spielte seine Flöte vor ihrem Haus. Die Bauerntochter lauschte den Melodien und träumte von der guten, alten Zeit. Bald hielt sie Ausschau nach dem jungen Flötenspielder. Welch ein Zauberinstrument ist doch die Flöte. Bald ließ sie ihn in ihre Kammer. Der Mond ging auf und sie wurden unzertrennlich. Der Flötenspieler wollte seine Liebe nicht mehr im Verborgenen suchen und so beichtete er dem Vormund, daß er sich vermählen wolle. Dieser verzog das Gesicht und machte eine bitterböse Miene. Seine Stimme donnerte durch den kleinen Raum: »Man kann doch nicht die hohe Kunst der Musik erlernen und gleichzeitig Frau und Kinder ernähren. Die Unschuld wil bewahrt sein. Wo bleiben denn Konzentration und Hingabe. Im Schoße einer Frau? Alles verschlingt die braune Erde«. Die Worte des Vormundes prallten an ihm ab wie Wasser am Entengefieder. Wußte er doch, daß nur diese Frau die Schlüssel zum Paradiese besaß. Ein Jahr verging und er war immer noch fest entschlossen, die Bauerntochter zu heiraten. Als er volljährig geworden war, schritt er mit ihr zum Traualtar. Der Vormund grollte noch immer und entzog ihm das Lehrgeld. Die Frau gebar bald ein Kind und aus dem Flötenspieler wurde ein armer Losverkäufer. Die braunen Mandelaugen des Kindes machten ihn glücklich. Er liebte das Kind. Es war so freundlich und klug, sanftmütig und schön.
Kreolo versuchte indessen, sich in den Brunnen des Vergessens zu stürzen. Jede Ablenkung war ihm willkommen. Er half beim Häuserbau, stand Männern und Frauen mit Rat und Tat zur Seite, so daß die Männer des hohen Rates auf ihn aufmerksam wurden. Sie stellten ihn in ihre Dienste und waren bald stolz, diesen eifrigen und klugen Jüngling an ihrer Seite zu haben. Obwohl sein Ansehen täglich größer wurde, fühlte er sich jedesmal rettungslos verloren, wenn die Erinnerung an die verlorene Liebe ihn einholte, unabwendbar wie die Flut des Meeres, ausgelöst durch die bleiche Macht des Mondes. In diesen Zeiten verließ er die weiße Stadt, kehrte den bösen Erinnerungen den Rücken und ritt mit seinem alten Pferd durch die Lande. Er ließ die weißen Häuser, die grünen Terassen und Gärten hinter sich, erblickte den goldenen Sonnenuntergang über den Weizenfeldern, hörte das Lied der Lerche, die unermüdlich mit den Flügeln schlug, dem Leben ein Loblied zu singen. Einmal war er nach vielen Tagesritten in eine wüste Gegend gekommen. Er sah verlassene Häuser und hörte das dumpfe Nagen von Rattenzähnen im Gebälk. Von weitem hörte er den Ruf einer Eule. Abenteuerlust ergriff sein Herz. Vielleicht war hier der Stein der Weisen zu finden oder reines Gold. "Die Eule ist ein weises Tier", dachte er bei sich und folgte ihrem Ruf.
Seine Lippen waren trocken und schmeckten nach Salz, als er endlich den alten Baumstumpf erreichte, auf dem die Eule in der Abenddämmerung saß. Sie drehte ihren Kopf und zwinkerte ihm zu. Plötzlich erhob sie sich mit schwerem Flügelschlag und flog auf eine Berghöhle zu. Kreolo folgte ihr. Vor der Höhle brach er einen trockenen Ast von einem Baumgerippe und setzte ihn in Brand. Mit dieser Fackel ging er in die finstere Höhle hinein. Er wagte sich immer tiefer in den Bauch des Berges. Die Eule hatte ihn zu einem Schatz geführt. Die Wände der Höhle waren von Goldadern durchzogen. Niemand kannte diesen Ort. Ihm war, als wolle die Vorsehung etwas an ihm gutmachen, damit er nicht untergehe.
Die Höhle wurde seine Goldmine. So wurde er bald einer der reichsten Kaufleute im Lande. Er kaufte sich ein großes Haus und ließ die größten Künstler unter den Webern für sich arbeiten. Er ließ Goldfäden in Teppiche und Decken weben, kaufte kostbare Gewürze und vermehrte so immer mehr seinen Schatz. Langsam erholten sich die Menschen vom Schrecken des Chaos. Der hohe Rat wurde einberufen und der Geheimbund tagte. Es wurde beschlossen, daß das Volk die zehn vortrefflichsten Männer wählen sollte, worauf den Astrologen die Ehre zuteil wurde, unter diesen Männern den König zu erwählen. Später war niemand verwundert, daß Kreolo unter ihnen war, denn er war nicht nur gut angesehen, fleißig und klug, sondern auch reich und mächtig geworden. Die Astrologen machten sich bald ans Werk und errechneten mit größter Sorgfalt die Geburtshoroskope der Kandidaten. Sie wurden einzeln studiert und dann unter den Astrologen diskutiert. Kreolos Planeten standen sehr günstig. Sonne und Jupiter in Konjunktion auf der Himmelsmitte im Zeichen des Schützen. Diese Planetenkonstellation deuteten die Astrologen als Zeichen der Königsherrschaft. Merkur im zweiten Haus sprach für einen geschickten Umgang mit Geld und Mars im Stier deutete auf Kampfeskraft. Alle Astrologen erkoren Kreolo zu ihrem König, bis auf einen, den sie nur den Alten nannten, weil er schon über hundert Lenze zählte. Dieser strich sich bedächtig mit der Hand über den kahlen Schädel, fuhr dann mit langen, streichenden Bewegungen über den langen, weißen Bart und deutete mit dem Finger auf Kreolos Horoskop, tippte mit der Fingerspitze auf den Saturn, der in Opposition zur Venus stand, öffnete den zahnlosen Mund und sprach mit hoher Fistelstimme: "Der Mann hat die Liebe nicht. Wie soll man denn da den Stein der Weisen finden, hä?" Die Astrologen hielten sich vor Lachen die Bäuche. Einer rief mit lauter Stimme: " Das ist noch die alte Schule. Da kann man nichts machen. Ihr nehmt diese Opposition zu ernst. Der Saturn bildet auch ein Trigon zur Sonne.Er verleiht Ansehen und Ausdauer. Das fünfte Haus läßt auf Kinder hoffen und das siebente verspricht eine dauerhafte Ehe. Muß ein König denn ein ewig verliebtes Hähnchen sein und den ganzen Tag auf dem Misthaufen scharren und krähen? Das schwächt ihn nur, du guter Alter! Wer sucht denn noch den Stein der Weisen?" Wieder erscholl Gelächter durch den ganzen Raum und niemand ließ den Alten noch einmal zu Worte kommen. Kopfschüttelnd und traurig ging er davon. Kurz darauf wurde dem Volke der Name des neuen Königs verkündet. Das Volk jubelte, auf den Straßen feierte man ein großes Fest. Da jubelte auch sie ihm zu, die Tochter des reichen Kaufmanns, die sich nun selbst verfluchte, ihn abgewiesen zu haben, ihn, den Eidechsenkönig. Kreolo vernahm in seinem Herzen den stummen Fluch und ergötzte sich daran.
Die Krönungszeremonie dauerte drei Tage, danach legte er sogleich Hand an das alte Gesetz und verkündete den Ministern: "Von nun an wird die Vernunft regieren. Der König und das Reich werden in die Geschichte eingehen. Bringt mir alle Künstler, sie sollen sich Handwerker des Königs nennen, er wird sie reich belohnen, wenn sie sein Bildnis in Gold verwandeln. Bestellt alle Gärtner zu mir, sie sollen alle Bäume und Sträucher beschneiden nach den Gesetzen der Geometrie. Rottet die Rosen, die Schwertlilien und die blaue Kornblume aus, damit die Menschen sich nicht mehr in ihrer Leidenschaft verzehren. Erhebt die Geranie, gedenkt des Stiefmütterchens, pflanzt Sonnenblumen für den König. Laßt die Triebe nicht wuchern, lenkt des Menschen Geschick in vernünftige Bahnen. Asphaltiert die Wege und zerlegt das Land, Planquadrat an Planquadrat. Für jeden Distrikt wird mir ein Astrologe Rechenschaft ablegen. Vermählt die jungen Menschen im achtzehnten Lebensjahr mit astrologischem Sachverstand. Das Weib soll dem Manne dienen. Der Mann versorge das Weib. Ihr wißt ja selbst, das die Suche nach der wahren Liebe vergeblich ist. Eher findet man eine Nadel im Heuhaufen. Zwingt sie zu ihrem Glück. Bringt alle Taugenichtse, Aufständische, Säufer, Bettler und Lahme in die verbotene Stadt. Wilde Ehen werden mit dem Tode bestraft. Ich werde Vorbild sein und mich als erster Mann diesem Gesetz unterwerfen. Sucht also ein Weib für mich." In den Ohren der Minister und Astrologen klang die Rede sehr vernünftig. Nur das Ohr des Alten hörte schlecht. Er lief durch die Räume und stieß immer nur ein "Pah" aus seinem zahnlosen Mund. Niemand beachtete ihn, nur ein alter Gärtner klopfte ihm auf die Schulter. Es dauerte nicht einmal vier Wochen, da hatte man ein Weib für Kreolo gefunden. Sie war groß und kräftig, weder schön noch häßlich zu nennen, aber treuherzig und gut. Bei der Auswahl der Braut hatte sich der Alte auffällig engagiert und sogar seinen Willen durchgesetzt. Da nannten sie ihn nur den jungen Greis und er nannte sie alte Kinder.
Am Tage der Hochzeit wurde der Sohn des Flötenspielers, der jetzt Losverkäufer war, drei Jahre alt. Im ganzen Bezirk kannte man seinen Namen: Amos. Wie lieb war das Kind und wie schön zugleich. Es war das letzte Kind, das die Liebe gezeugt hatte. Er konnte gerade laufen, da spielte er auch schon die Flöte. Der Losverkäufer war traurig. Schon jetzt fischte man Liebespärchen aus dem Wasser.Ertrunken! Die Bäume spendeten keinen Schatten mehr. Der Sohn war so sanft und wollte allen Wesen helfen. Die Frau seufzte immer nur über das Kind: "Er wird sich niemals durchsetzen können. Im Alter sehe ich mich nach dem Kinde suchen in der verbotenen Stadt." Er schenkte den anderen Kindern sein Spielzeug und den Armen brachte er sein Brot. Überall sprachen die Menschen: "Der Ofen raucht, dennoch ist es kalt."
Es wurde nicht wärmer, in jedem Haus gab es Kummer und Streit. Die Selbstmordrate stieg immer mehr an. Kreolo wußte davon nichts. Seine einzige Sorge war, daß die Königin ihm nur eine Tochter geschenkt hatte. Als sie heranwuchs, wurde auch sein Herz schwer. Immerzu stellte sie Fragen: Warum, warum, warum? Oft saß sie Stunde um Stunde im Garten und sang. Kreolo übergab das Kind den Kindermädchen, denn er konnte ihre Fragen nicht beantworten. Eines Tages, als sie wieder einmal im Garten ihre Lieder sang, entdeckte sie eine Drossel, die in das Fangnetz des Bäckerjungen geraten war. Sie befreite den armen Vogel. Glücklich sah sie ihn im Blau des Himmels verschwinden. Im nächsten Jahr kehrte die Drossel wieder und sang für die Prinzessin Arati ihr Lied. Jedes Jahr kehrte sie wieder und sang das Lied der Liebe und das Lied der Freiheit. Sie sang, als wolle sie Antwort auf alle Fragen geben. Als Arati dreizehn Jahre alt geworden war, schickte König Kreolo sie auf die hohe Schule der Magie, damit sie die Kunst der Astrologie erlerne. Staunend betrachtete die Prinzessin das große, weiße Gebäude und den Innenhof mit dem Mandelbaum, während am Hofe die ersten Hinrichtungen stattfanden. Im weißen Gewand schritt sie die Treppe hinauf. Ihre Hände glitten langsam über das goldene Geländer. Der Unterricht machte ihr Freude. Sie lernte Symbolik, Lichtbildnerei, Himmels- und Landeskunde. Die Astrologie wurde ihr Lieblingsfach. Bald entdeckte man ihre große Begabung. Nach einigen Monden entwickelte sie die Fähigkeit, das Bild eines Menschen, dessen Horoskop sie erstellte, vor sich zu sehen.
Zu dieser Zeit feierte Amos sein Abschiedsfest auf der Schule des Volkes. Er war äußerst klug und spielte die Flöte wie kein anderer. Jedes Jahr war er schöner geworden. Er vermochte es nicht mehr in die traurigen Augen der Menschen zu sehen. Die Liebe war tot, also mußte sie auferstehen. Er ging in die Stadt und öffnete die Käfige der Taubenhändler im Namen der Liebe. In großen Schwärmen sah man weiße Tauben in den Himmel fliegen. Wo man ihren Flügelschlag vernahm, da zeigte sich der Regenbogen. Seine Stimme hallte durch die Gassen: "Laßt die Liebe frei. Sucht den Stein der Weisen. Laßt das Morden nicht zu. Die Bäume sollen in den Himmel wachsen. Treibt die Liebenden nicht in die Arme des Todes! Wo blüht die Rose? Hat jemand die Schwertlilie gesehen? " Das Volk liebte Amos und hörte seine Stimme. Der König nannte ihn einen Revolutionär und Aufrührer. Bevor die Wachen nach ihm suchten, war er schon verschwunden. Arati betete für ihn, als sie seine Botschaft vernahm.
Der König wurde immer prunksüchtiger. Er war inzwischen grau geworden. Das Volk mußte bluten. Arati entdeckte grausame Züge in seinem Gesicht. Sie zog sich zurück und beriet sich mit dem Alten, den sie sehr verehrte. Langsam schrumpfte sein Rücken und beugte sich der Erde zu. Im Geheimen berechneten sie Amos Horoskop. Arati wollte ihn finden, um ihn zu retten. Der König trachtete danach, ihn zu töten. Der Alte tippte mit dem Zeigefinger auf die Sonne. Er flüsterte Arati zu: " Du hast die Nadel im Heuhaufen gefunden." Die Sonne des Amos stand auf dreizehn Grad Waage. Aratis Mond stand ebenfalls auf dreizehn Grad Waage. Der Mann war die Sonne und die Frau der Mond. Alle Aspekte der beiden Horoskope harmonierten miteinander. So hatte Arati den für sie vom Schicksal bestimmten Mann gefunden, den Mann ihrer ganz großen Liebe. Ein einzigartiger und seltener Zufall, so selten wie das Auffinden der Nadel im Heuhaufen. Der Alte lief aufgeregt im Palaste umher und rief immer wieder jubelnd: "Jaha". Die Palastdiener flüsterten sich zu, daß er nun endgültige senil geworden sei. Arati betrachtete immer noch das Horoskop des Amos. Neptun und Sonne berührten sich. Er sah das Unbekannte. Saturn hatte Merkur an sich gebunden. Seine Gedanken loteten sich tief aus. Das elfte Haus zeugte von Menschenliebe und Pluto von großer Kraft. Sie schloß die Augen und sah sein Bildnis. Sie sah die braunen Mandelaugen und das lange, dunkle Haar, den wundervoll geschwungenen Mund und die schlanke Nase. Sie wußte, daß sie ihn nie mehr vergessen konnte. Die Liebe ergriff sie wie ein loderndes Feuer, der ganze Körper brannte. Sie gehörten zusammen. Sie hatte nur noch den einen Gedanken an ihn. Sie würde fliehen und ihn finden. Der Entschluß war gefaßt. Am Nächsten Morgen würde sie fortgeritten sein.
Als Arati ihr Schlafzimmer betreten hatte und in ihren blauen Seidenmantel geschlüpft war, da klopfte es wild an der Tür. Ein kleiner Mann mit Zottelhaar und Ziegenbart stand vor ihr. Er roch wie ein Wasserbüffel, sah sie mit seinen Schlitzaugen an und sprach: "Die Wachen des Königs sind hinter mir her. Ich wollte zu Manu, der Steinmetzin des Königs. Bitte versteckt mich diese Nacht. Liefert mich nicht aus. Ach, die Sehnsucht ist so groß." Arati nickte und bot ihm Platz auf ihrem Seidenkissen an. Er bedankte sich mit vielen Handküssen und lobte die Prinzessin für ihr gutes Herz. "Wer seid Ihr?" fragte sie. "Kennst du Pan?" Arati nickte. "Der Gott der Wälder, nicht wahr?" Das ganze Zimmer roch nach Wein und Ziegenfell. Er blinzelte sie an, schnalzte mit der Zunge und sprach mit seiner merkwürdigen Singsang-Stimme: "Bin ein Weiser und schon heiser...Weib und Wein, die sind mein. Meine Herde, die ist groß...das ist doch der Göötter Loos...Bin aus der Sehnsucht der Menschen geboren...jung und stark und auserkooren...Die Instinkte neu erwacht...drei mal gefurzt und laut gelacht...Das heilige Wort der Liebe wächst auch am Baum der Triebe...Die Menschen müssen leiden...Ich werde sie führen und weiden." Arati mußte lachen, so komisch war er. Er reckte seinen Kopf in die Höhe und schnupperte wie ein Kaninchen mit der Nase. Im Morgengrauen schlich er sich heimlich vor Manus Tür. Er wollte nur ihre Witterung aufnehmen, wie er immer wieder beteuerte. Arati warf sich eine braune Kutte über und schlich zum Stall. Der Alte stand schon dort und hielt Wache. Es gab nur eine Sache, die er mehr fürchtete, als der Tod, das war die Langeweile. Er gab ihr eine Karte, die zeigte den Weg zur verbotenen Stadt. Der Ort der Vogelfreien. Hier sollte sie Amos Spur aufnehmen. Sie sollte sich in der alten Rostlaube melden, dort konnte man ihr sicher weiterhelfen. Sie schwang sich in den Sattel und das Pferd trabte in den Nebel und verschwand.
Nach vielen Tagestritten hatte sie endlich die verbotene Stadt erreicht. Sie fand auch die alte Rostlaube und fragte jedermann aus. Alle Menschen konnten sich an Amos erinnern und erzählten, daß er auf geheimnisvolle Weise verschwunden sei. Endlich fand sie einen Blinden, der ihr mehr sagen konnte. Nachdem er drei Tage geprüft hatte, ob ihr zu trauen sei, brach er sein Schweigen: "Drei Tagesreisen hinter der Stadt liegt ein großer See. Mitten auf dem See ist eine Insel. Dort lebt Amos wie ein Einsiedler. Nur der Fährmann kann dich übersetzen. Du mußt auf ihn warten. Eine lange Zeit. Eine sehr lange Zeit." Den letzten Satz hatte der Blinde seltsam betont. Arati mußte Amos finden, koste es auch das Leben. Also pilgerte sie zu dem See, der ihr von dem Blinden beschrieben worden war. Sie setzte sich an das Ufer und wartete. Dem Hüter der Zeit konnte man nur in der Zeit begegnen. Geduld und Demut waren die Schlüsselworte für ihr Vorhaben. Sie zahlte den Preis für den König, das war der Hochmut des Jupiter. Sie setzte sich am Ufer des Sees nieder und ließ alle Gedanken los. Die Stille lockt den Eremiten aus der Höhle. Sie erwartete nichts mehr. Sie ließ den Wind der Jahrhunderte an sich vorüberwehen. Tage und Nächte wechselten sich ab, gingen ineindander über, verloren sich in der Dämmerung. Am Himmel bewegte sich der Abendstern der Liebe langsam auf den Saturn zu. Die Wolken zogen dahin. Regen und Sonnenschein, Kälte und Hunger. Als sie so dem Saturn ihre Zeit schenkte, da fielen ihr die Augen zu und sie erblickte ein schwaches Licht in ihrem Innern, der eigenen Seele. Das Rascheln des Windes im Schilf war im Rauschen des Blutes zu hören, der Anfang einer Melodie.
Zur selben Zeit hatte Kreolos Stern den Zenit überschritten. Das Licht einer Sternschnuppe versank im Meer. Überall herrschte Aufregung um das Verschwinden der Prinzessin. Kreolo sah sie in seinen Träumen und sein Herz wurde von Zweifeln geplagt. Vor dem Zimmer der Steinmetzin hatte man einen zotteligen Mann aufgegriffen. Sein Schnarchen hatte die Wachen geweckt. Als man ihn vor den König führte, da behauptete er frech, ein Gott zu sein. Kreolo nahm ihn scharf ins Verhör, doch der Zottelige stellte die Welt des Herrschers auf den Kopf: "Ich komme aus den Wäldern und den Feldern. Die Bäume gleichen Kugeln und Quadraten, nett anzusehen, aber sie bieten keinen Schutz. Wo soll ich mich mit meinen Nymphchen vergnügen? Sie haben nur noch Angst. Die Herden bringen immer mehr schwarze Schafe hervor und das Fell ist stumpf. Wie kommt das nur? Die Menschen in den Städten rufen verzweifelt meinen Namen. Wenn ich ihren Ruf höre, was glaubt ihr wohl, was dann passiert?" Der König wartete gebannt auf die Antwort. "Ich bin Pan. Wenn man mich nicht gebührend ehrt, dann verbreite ich Panik." Das Wort löste Entsetzen bei dem König aus. In seinem ganzen Leben hatte er nichts anderes getan, als diesen Zustand zu verhindern. Aber das Volk war schon auf den Beinen und versammelte sich vor dem Palast. Immer wieder riefen sie den Namen des Amos und den Namen der Prinzessin. Die Staatskassen waren leer, die Brunnen ausgeschöpft, die Quellen versiegt. Das Volk ließ sich nicht mehr beruhigen. Am Ende mußte der König abdanken.
Niemand wußte, wie lange Arati am See ausgeharrt hatte. In ihrem Geist sah sie Welten kommen und gehen. Dennoch stand die Zeit ganz still. Mitten in der Nacht wurde sie vollkommen unerwartet von einer Lampe geblendet. Er war gekommen. Sie konnte sein Antlitz nicht sehen, es war von einer Kapuze umhüllt. Er stütze sich auf seinen Stab und führte sie in das Boot. Sie wußte, daß sie die Überfahrt bezahlen müsse, also sang sie ein Lied. Der Fährmann nickte und stieß mit seinem Stab das Boot vom Ufer ab. So glitten sie über das Wasser, beinahe schwerelos, von Nebelbänken umgeben. Still saß sie auf dem hölzernen Bänkchen. Der Fährmann hielt die Laterne hoch und steuerte auf die Insel zu, die sie im Morgengrauen erreichten. Am Ufer erwartete sie ein Lahmer, der hinkend das Boot an Land zog. Auf der Insel gab es einen hohen Berg mit einer Höhle. Arati kletterte wie eine Bergziege. Steine rollten unter ihren Füßen dem Abgrund entgegen. Amos fühlte ihre suchende Hand in der Felswand. Als er sie erblickte, da wußte er, daß er die ganze Zeit auf sie gewartet hatte."Du hast mich gefunden?" Arati verneigte sich vor ihm. Lange Zeit war kein Wort mehr über ihre Lippen gekommen, aber jetzt lief ihr das Herz über. Amos forderte sie auf, ihm ihr ganzes Leben zu erzählen. Er hörte ihr aufmerksam zu. Seine Augen, seine Lippen, die Nase, alles war so edel und schön, wie sie es vorhergesehen hatte. Sein langes Haar schmiegte sich an den zarten Körper. Er lauschte ihren Worten wie Musik. Je länger sie sprach, desto mehr liebte er sie. Am Ende fragte sie ihn, wie man denn den Stein der Weisen finden könne, denn ein anderes Verlangen hätte sie nicht mehr, außer diesem einem, mit ihm ihr Leben zu teilen. Mit bedächtigen Worten und leiser Stimme antwortete er ihr: "Hörtest du die Botschaft nicht im Lied der Drossel, führte sie dich nicht zu mir? Der Stein der Weisen ist nur die verdichtete Zeit der Liebe." Arati nickte. Sie war sehr glücklich, als Amos sich entschloß, mit ihr in die Welt zurückzukehren. Er küßte sie lange und zärtlich und schenkte ihr eine Schwertlilie, die am Eingang der Höhle wild gewachsen war. Sie fuhren mit dem Boot zurück und Arati sang ein Lied: "Es wird einer kommen oder war schon da, der gibt sein Leben für die Liebe."
Als sie die Heimat erreichten, da wurde Amos ein König und Arati wurde die Königin. Das Land blühte wieder auf und jeden Abend erzählte Amos seiner geliebten Frau die Geschichten vom Eidechsenkönig.